Dietmar Dath antwortet auf Maxim Biller : Wenn Weißbrote wie wir erzählen
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Was uns herausfordert, kommt nicht aus literarischen Zusammenhängen: Kreuzberger Straßenszene Bild: Paul Glaser
Der Schriftsteller Maxim Biller findet, in Deutschland sorgten Nazi-Enkel dafür, dass Autoren mit Migrationshintergrund abgedrängt werden. Und auch diese Autoren wären korrumpiert. Eine Entgegnung.
Kommt ein Mann in eine türkische Kneipe in Kreuzberg, stellt sich in die Mitte des Raumes, schaut sich aufmerksam um, schließt die Augen, holt tief Luft und schreit: „Verdammter Rassist! Schöne Literatur, sagst du? Eine üble, gönnerhafte Nummer, Alter! Denn wenn du überhaupt mal was liest oder lobst, das jemand geschrieben hat, der oder die nicht als Kind sensibler Weißbrot-Eltern von früher Jugend auf in der linksliberalen kosmopolitisch-lockerdeutschen Leitkultur-Kita gelernt hat, wie hier geredet und geschrieben wird, dann kann man sofort den beißenden Dünkel riechen, mit dem du jede Stimme, die anders klingt als deine, von oben herab zwangsintegrieren willst!“
Fünf schreckensstarre Sekunden lang schweigt alles betreten: die Migrationshintergründigen in der zweiten bis vierten Generation wie die Autochthonen. Dann steht ein blasses Männlein mit Brille umständlich auf und flüstert: „Ich verstehe deine Erregung, mein Freund. Aber ein bisschen hart finde ich das mir gegenüber jetzt doch. Setz dich her, wir wollen reden.“
Der Sketch ist wahr. Man kann ihn in jeder deutschen Großstadt aufführen, sogar in ein paar Mittelstädten. Der Erzähler und Polemiker Maxim Biller hat sich entschlossen, im Sketch den Mann zu spielen, der deutlich hörbar abrechnet. Wer macht jetzt das Männlein mit der Brille?
Habituelle Christen, Kinder der Suhrkamp-Kultur
Na gut. In der gestern erschienenen Ausgabe der „Zeit“ schreibt Biller über den Zustand der deutschen Textrepublik: „Kritiker, aber auch Verleger, Lektoren und Buchhändler sind zu 90 Prozent Deutsche. Sie, als echte oder habituelle Christen, als Kinder der Suhrkamp-Kultur und Enkel von halbwegs umerzogenen Nazisoldaten, bestimmen, was gedruckt wird und wie, sie sagen, was bei Hugendubel, Thalia und Dussmann auf die alles entscheidenden Verkaufstische kommt, sie zahlen die Vorschüsse, sie verleihen die Preise, sie laden als Verleger zum Abendessen ein.“
Biller nimmt sich hier die Etablierten vor, weil er kein naiver Schwärmer ist, der allein den randständigen Stimmen die Aufgabe zuschanzt, die Verhältnisse umzustoßen. Er sagt nicht: Migrantinnen und Migranten, geht voran! Das heißt: Ein bisschen sagt er es doch, nämlich, indem er erklärt, warum sie es seiner Beobachtung zufolge nicht tun - „der Druck, dem deutsche Schriftsteller mit nichtdeutschen Wurzeln ausgesetzt sind, ist nichts für Schwächlinge“, denn sie werden „hier mal verhöhnt, mal verhätschelt, jedoch nie als Gleichberechtigte und willkommene Veränderer behandelt“.
Davon stehe „kaum etwas in ihren Büchern“, und „sogar wenn sie - wie zum Beispiel Marjana Gaponenko oder Zsuzsa Bánk - ihre Immigrantenbiographie in ihren Texten durchscheinen lassen, sind die nie der Ausgangspunkt eines Konflikts der handelnden Figuren ihrer Romane, sondern fast immer nur Folklore oder szenische Beilage“. Mit dem ihm eigenen Gespür für riskante Pointen nennt Biller das, was auf Seiten der verhinderten Veränderer dabei herauskommt, „Onkel-Tom-Literatur“.
„Ich bin auch so einer“
Ob die von diesen Sätzen und Absätzen Gemeinten das gern hören oder dagegen Einwände haben, will ich nicht erraten müssen. Es steht mir nicht zu.
Alle deutschen Integrationsdebatten spätestens seit den fünfziger Jahren waren davon entstellt, dass da allerlei dank Stammbaum hinreichend integrierte Urdeutsche über, gegen oder für Leute redeten und reden, die noch zu integrieren wären. Dabei muss man nicht mittun. Lieber stehe ich umständlich auf und fühle mich gemeint: Ja, ich weiß, wovon Maxim Biller spricht. Ich verstehe, wen er benennt, wenn er „echte oder habituelle Christen, Kinder der Suhrkamp-Kultur und Enkel von halbwegs umerzogenen Nazisoldaten“ sagt. Ich bin auch so einer.
Meine Eltern wollten mich zum Protestanten erziehen, und mein Kirchenaustritt bei Erreichen der Religionsmündigkeit ändert nichts daran, dass ich beim Weihnachtsgottesdienst immer noch wüsste, was wann gesungen und gebetet wird. Damit ist das „habituelle Christentum“ abgedeckt.
Checkpoint 2: Suhrkamp, ein Wappen, das Biller in seinem Text als effektvolles Kürzel für die vorherrschenden Lesegewohnheiten des literaturbetriebslenkenden Bewusstseins einsetzt. Ich kenne das Wappen gut genug. Der Verlag hat Bücher von mir gedruckt, und als er das erste angenommen hatte, war mir tatsächlich einen Moment lang, wie Billers Verwendung des Wimpels nahelegt, als hätte ich zum zweiten Mal das Abitur bestanden und dürfte jetzt hoffen, dem Schicksal vieler Kindheitsfreundinnen und -freunde zu entgehen, die heute von irgendeiner Arbeit leben müssen, bei der sich niemand dafür interessiert, ob sie Hirn, Einfälle oder Träume haben.
Was machen die Iranerin, der Portugiese und der Türke aus meiner südbadischen Kleinstadt-Grundschule heute wohl beruflich, der Serbe, die Liberianerin aus dem Gymnasium? Keine Ahnung, aber wenn sie Künstlerinnen oder Dichter geworden wären, würde ich mich schon wundern, ich kenne ja das Land hier auch. Kontakt pflege ich zu ihnen allen keinen mehr, jetzt, mit Mitte vierzig.
Kontakt pflege ich allerdings - wieder eine Bestätigung von Billers These - zu einigen anderen ehemaligen Schulbekanntschaften, die Biller „indigen“ nennen würde, solche also, deren Großväter mit den meinen vielleicht Fronterinnerungen aus dem Zweiten Weltkrieg hätten austauschen können, hätte ihnen der Sinn danach gestanden. Was die „halbwegs umerzogenen Nazisoldaten“ angeht, steht es bei mir sogar eher schlimmer als in Billers Diagnose: Ich weiß zu wenig über sie, denn beide Großväter sind lange tot, wir haben nicht über die deutschen Verbrechen geredet, erst recht nicht darüber, ob sie sich daran beteiligt haben.
Vor ein paar Jahren traf ich zufällig in einem Metropolen-Klamottenladen den vor einem Vierteljahrhundert von mir sehr bewunderten, weil ungeheuer belesenen - und iranischen - Vater eines lange aus den Augen verlorenen Mitschülers wieder. Der Mann, ein Architekt, erinnerte sich lebhaft an einen meiner Großväter, mit dem er ab und zu auf Elternabenden zusammengetroffen war.
Von diesem schien er, wie mir einer seiner bösen Witze verriet, etwas zu wissen, das in meiner liebenden Erinnerung nur vage gespeichert war, nämlich dass jener Großvater wohl dem Neuheiden-Flügel nationalkonservativer Wagner-Esoterik zugeneigt gewesen war. „Na“, fragte der Iraner melancholisch, „was macht dein Opa, ist er schon in Walhalla?“
Das, Freunde und Nachbarn, ist Bildung - wie viele „gesichtslose Großstadtbewohner mit nichtssagenden Nuller-Jahre-Vornamen“ (Biller), die unsere deutsche Gegenwartsliteratur schreiben oder darin herumlaufen, wissen schon, was „Walhalla“ ist?
Literatur aus dem Ausland statt von Migranten
Keine Ahnung. Nein, das ist keine rhetorische Geste - ich könnte es wirklich nicht sagen, weil ich sehr wenig deutschsprachige Gegenwartsliteratur lese. Das ist nun ein Tatbestand, der in Billers Steckbrief der Privilegierten fehlt: Seit Jahren begegne ich auf Buchmessen, literarischen Tagungen, Abenden zur Würdigung großer Toter und anderen Arbeitsgeselligkeiten jungen bis jüngsten deutschen Autorinnen und Autoren, mit denen man, wenn der Job erledigt ist, den Weihesaal verlässt, um gemeinsam zum Türken, Griechen, Westafrikaner oder Indonesier zu gehen.
Da wird dann von amerikanischen, französischen, japanischen, russischen, niederländischen und indischen Büchern gesprochen, lobend, hasserfüllt, eifernd, sehnsüchtig, leidenschaftlich. Das ist kein Augurentheater, bei dem man sich bedeckt hält, was die Meinungen über die einheimische Konkurrenz angeht.
Je näher man diese Leute kennenlernt, desto weniger geht es noch um die Long- und Shortlist zum Deutschen Buchpreis, desto ausführlicher stattdessen um Don Winslow, Zadie Smith oder Toh EnJoe, außerdem um Fernsehserien, Filme und Platten. Die Nichterwähnung deutscher Gegenwartsliteratur in diesen Kreisen ist kein taktisches Ausweichmanöver, sie ist in den meisten dieser Fälle echte, erarbeitete Ignoranz. Und ich bekenne mich zu meiner.
„Broken English“ statt Türkisch
Das Motiv derjenigen unter den Jüngeren, die ich kennenlernen konnte - vom Heyne-Thriller-Schriftsteller bis zur kookbooks-Lyrikerin, dazwischen passt ein halbes Dutzend der besten Suhrkamp-Vorbilder, die man haben kann -, sich überhaupt je in die Literatur geworfen zu haben, ist meistens dasselbe, das mich Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger in Gang gebracht hat.
Nichts wie raus aus dem Nest, aus der Familie, aus dem Viertel oder aus dem Kaff, aus der vorgesehenen Lebensbahn, aus der geglaubten oder habituellen Religion, damit aber vor allem immer auch: aus der geläufigen Sprache. Die andere, bessere Sprache konnte und kann das „broken English“ (Marianne Faithfull) der Popmusik sein oder die bildende Kunst, die kristallinen Konstrukte exakter Wissenschaften, die Forderungskataloge radikaler Politik.
Bloß Türkisch war und ist es bei meinesgleichen nicht, weder Farsi oder Urdu. Lächerlich und beschämend: Mein japanischer Wortschatz, mein Glossar für Hip-Hop-Slang ist umfangreicher als diejenigen Teile meines Vokabulars, auf die ich zurückgreifen kann, wenn ich mich mit meinem Friseur in seiner ersten Sprache unterhalten wollen würde. Hier stimmt was nicht, das stimmt.
Liegt es also nicht nahe, das, was hier nicht stimmt, analytisch mit einer scheußlichen deutschen Besonderheit kurzzuschließen, die Maxim Biller den Einstieg in seinen Artikel liefert: „Seit der Vertreibung der Juden aus der deutschen Literatur durch die Nationalsozialisten waren die deutschen Schriftsteller, Kritiker und Verleger jahrzehntelang fast nur noch unter sich“?
Zwölf Jahre Zivilisationsverweigerung, Massenmord und organisierte Kulturnotzucht - wer hier nach 1945 rauswollte aus all dem, woraus junge Leute immer rauswollen, samt der Sprache, hatte ein paar gewichtige moralische Gründe mehr als andere Kinder anderswo und anderswann. Geholt hat man sich die begehrten anderen Sprachen bekanntlich beim Rock ’n’ Roll, im Kino, bei Comics, kurz, bei dem, was die NPD inzwischen, als wäre sie spätbekehrte Achtundsechzigerin, „amerikanischen Kulturimperialismus“ zu nennen gelernt hat.
Realismus konnte hierbei schon deshalb nicht aufkommen, weil man die Leute, denen man die neue Sprache verdankte, nur in der Vermittlung durch diese kannte. So konnten selbst die Fremdenfeinde, die Wolfgang Pohrt nach dem Ende der deutschen Zweistaatlichkeit für seine Massenbewusstseinsstudien interviewte, etwas für Tina Turner und Don Johnson übrighaben und dabei doch Rassisten sein, denn die Nachbarn und Asylsuchenden, von denen sie ihre Arbeitsplätze, ihre Vorgärten und ihre Kinder bedroht glaubten, kamen ja nicht aus Amerika.
Als Diedrich Diederichsen bei der Hetzjagd auf Asylsuchende damals auffiel, dass da Leute prügelten und brandschatzten, die sich mit den Insignien der internationalen Popkultur schmückten, war das die tragische Seite einer Offenbarung, deren läppische sich kurz darauf als „deutsche Popliteratur“ enthüllte. „Popliteratur“ hieß in der jungen Berliner Republik nämlich nicht, dass nun plötzlich irgendetwas Waches, Schnelles und Unberechenbares in die Literaturhäuser einfiel, sondern nur, dass der sich seit Werther treu gebliebene, leidlich gebildete, heterosexuelle, nicht allzu arme weiße Bub neuerdings Bandnamen und Plattentitel in seine Monologe einbauen konnte.
Popliteratur wäre Literatur gewesen, die sich an die sozialen Sollbruchstellen herantraut, die sich durch populäre Textgenres wie Krimi, Journalismus, Horror, Lügengeschichte, Science-Fiction oder Porno zieht. Die Übersetzung dieser Brüche aus den Abstraktionen solcher Genres in Realismus oder Naturalismus ist in der angloamerikanischen Welt von der postkolonialen Literatur und von Texten, deren Text-Ich durch anderweitige „identity politics“ hindurchgegangen war, geleistet worden.
Orchideen im Schatten
Man kann sich wünschen, das möge auch hier passieren. Aber Literatur entsteht nicht nach Debattenplan. Sie entsteht nach Marktlage. Der Zeitungsmarkt zum Beispiel sieht so aus, dass Maxim Biller eine Menge Platz bekommt, den Indigenen die Meinung zu geigen. Der Zeitungsmarkt sieht auch so aus, dass ich ebenfalls eine Menge Platz kriege, darauf mit einigen Einfällen zu reagieren.
Beide aber werden wir, in Zustimmung wie Ablehnung, damit auf jeden Fall von wesentlich mehr Leuten wahrgenommen als etwa die präzise Novelle „die dinge, die ich denke, während ich höflich lächle“ von Sharon Dodua Otoo, einer in Berlin lebenden Frau, die sich eine schwarze Britin nennt und als Interventin in politische Diskurse wesentlich eher wahrgenommen wird denn als Schriftstellerin, obwohl ihr Buch über die Haken an den Identitäten, die Leute mit sich herumschleppen, so klug durchgearbeitet ist, dass man damit ein exzellentes Literaturkolleg darüber, was eine Novelle ist, organisieren könnte. Ich kenne das Buch nur, weil ich zum Glück mit Leuten Umgang habe, die politisch antirassistische Arbeit tun, es ist im winzigen Verlag edition assemblage 2012 gleichzeitig auf Deutsch und auf Englisch erschienen. In Literaturzirkeln hätte ich auf den Tipp lange warten müssen.
Ein anderes Beispiel: Das ergiebigste Gespräch - ich knabbere immer noch daran herum - darüber, ob und wie man Familien- und andere persönliche Geschichten auf eine Art erzählen kann, die das, was daran politisch ist, dem erlebten oder aus Erfahrung zusammenmontierten Stoff nicht einfach lehrfabelhaft überstülpt, sondern aus ihm entwickelt, habe ich mit der Architekturkritikerin und Schriftstellerin Layla Dawson führen dürfen, die als Layla Shah 2007 ihren autobiographischen Roman „Brit & Brown“ veröffentlichte. Das Gespräch fand vor einigen Jahren auf einer Feier zu Ehren des ausdauerndsten indigenen Antirassisten der deutschen Gegenwartspublizistik, Hermann L. Gremliza, statt.
Letztes Beispiel: Eine meiner deutsch schreibenden Lieblingsschriftstellerinnen trägt einen nichtdeutschen Namen, über ihre Abstammung aber bin ich komplett uninformiert. Myra Çakan schreibt Science-Fiction, das erste Buch von ihr, das man mir in die Hand gedrückt hat, ist in der Phantastik-Reihe des linken Argument-Verlags erschienen.
Literatur ist keine Insel
Was ich mit diesen drei Beispielen sagen will, ist dies: Alles, was das fade, keinen unerwarteten nichtdeutschen Belastungen ausgesetzte Weißbrot an mir als Literatur herausfordert und in Frage stellt, kommt aus sozialen Begegnungen, ist ermöglicht von politischen Anlässen, politischen Gelegenheiten, politischen Zusammenhängen, nicht literarischen oder kulturellen.
Maxim Biller semmelt der Bewusstseinsindustrie eins rein, das ist seine Begabung, das kann und soll er. Aber die Zustände, die er ablehnt, reimen sich zu gut auf die Zustände in den Städten, an den Schulen, in den Parlamenten, als dass sie sich auf die Formate der Bewusstseinsindustrie werden stutzen lassen.
Das Allerbeste an der Literaturdebatte, die Biller will, ist der Umstand, dass sie sich als Literaturdebatte allein gar nicht führen lässt.