Polens Verfassungsgericht : Grenzen der Mehrheitsherrschaft
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Proteste gegen die Änderungen Anfang Dezember vor dem Parlament in Warschau Bild: AP Photo/Czarek Sokolowski
Was kann man gegen die Entmachtung des polnischen Verfassungsgerichts tun? Zu prüfen wäre, ob Gesetze, die dem Gericht die Erfüllung seiner Aufgaben unmöglich machen, nicht selbst verfassungswidrig sind. Ein Gastbeitrag.
Ein Staat muss kein Verfassungsgericht haben, um demokratisch und rechtsstaatlich zu sein. Es gibt eine Handvoll Staaten, in denen die Verfassung geachtet wird, ohne dass ein Verfassungsgericht ihre Befolgung sichert. Aber es ist eben nur eine Handvoll. Im Allgemeinen lehrt die Erfahrung, dass Verfassungen auf schwachen Füßen stehen, wenn ihnen eine gerichtliche Durchsetzungsinstanz fehlt. Deswegen war es auch in allen Staaten, die sich jüngst von autoritären, totalitären oder rassistischen Regimen befreiten, unumstritten, dass die neue Ordnung durch ein Verfassungsgericht gesichert werden müsse. Das deutsche Bundesverfassungsgericht diente dabei vielen als Vorbild.
Nachdem die Unterdrückten aber selbst zu Herrschenden geworden waren, erschien ihnen das Verfassungsgericht bald als lästig. Die jeweiligen Mehrheiten mussten erfahren, dass sie nicht alles durften, was sie wollten, und als Schuldige waren schnell die Verfassungsgerichte ausgemacht. Manche neuen Demokratien hatten ihr Verfassungsgericht von Beginn an so eingerichtet, dass die Regierenden von ihm nichts zu befürchten hatten. Bei anderen kam der Unwille im Lauf der Zeit auf. Die in Wahlen gewonnene parlamentarische Mehrheit wurde benutzt, um den Verfassungsgerichten den Stachel zu ziehen. Nach Ungarn geschieht dies nun in Polen, beides Staaten mit geachteten Verfassungsgerichten.
Organisatorische Hindernisse, personelle Veränderung
Hier wie da berufen sich die Mehrheitsparteien zur Begründung ihrer Maßnahmen auf das Demokratieprinzip. Es könne nicht sein, dass ein paar nicht vom Volk berufene Richter die Absichten der vom Volk gewählten Mehrheit durchkreuzten. Dahinter verbirgt sich eine Demokratievorstellung, nach welcher der Wahlsieg der Mehrheit umfassende Vollmacht gibt. Der Verfassungsstaat ist allerdings gerade die Negation dieser Vorstellung. Er zieht der Mehrheitsherrschaft im Allgemeininteresse Grenzen. Macht, auch wenn sie auf demokratischen Wahlen beruht, kann sich im Verfassungsstaat nicht umstandslos in Recht umsetzen, sondern muss bestimmten Legitimitätsanforderungen genügen.
Verfassungsgerichte sind berufen, diese Anforderungen zu sichern. Politische Entscheidungen, die sie verletzen, können vom Verfassungsgericht aufgehoben werden. Gerade um diese Befugnis sollen Maßnahmen wie die in Polen getroffene die Verfassungsgerichte bringen. Sie werden nicht aufgelöst oder offen ihrer Zuständigkeiten beraubt, dazu reicht die Mehrheit der polnischen PiS nicht. Das Verfassungsgericht soll vielmehr durch organisatorische Vorkehrungen daran gehindert werden, seine Zuständigkeiten wirksam auszuüben, flankiert durch personelle Veränderungen, von denen sich die Partei ein gefügigeres Gericht verspricht.
Jahrzehnte in der Warteschleife
Es sind vor allem vier Maßnahmen, mit denen sich die PiS-Mehrheit der verfassungsgerichtlichen Kontrolle entledigen will. Das aus 15 Richtern bestehende Gericht soll nicht mehr in kleinen Einheiten entscheiden dürfen, sondern alle Fälle in voller Besetzung verhandeln. Entscheidungen setzen zudem die Anwesenheit von mindestens 13 Richtern voraus. Fallen mehr als zwei Richter aus, kann das Gericht überhaupt nicht tätig werden. Ferner sind die Fälle ungeachtet ihrer Wichtigkeit oder Dringlichkeit in der Reihenfolge ihres Eingangs zu entscheiden. Schließlich bedarf es zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes einer Zweidrittelmehrheit.
Das Bundesverfassungsgericht wäre unter solchen Bedingungen praktisch lahmgelegt. Es kann mit den rund 7000 Fällen pro Jahr nur fertig werden, wenn es möglich ist, die weniger wichtigen oder von vornherein aussichtslosen in den sogenannten Kammern zu entscheiden. Nur etwa 30 bis 40 Fälle pro Jahr werden in der vollen Besetzung entschieden. Der amerikanischen Supreme Court wählt aus den rund 8000 Fällen pro Jahr nur etwa 60 zur Entscheidung aus. Wären sämtliche Fälle in der Reihenfolge ihres Eingangs von allen Richtern zu entscheiden, müssten die Antragsteller Jahrzehnte auf ein Urteil warten. Bis dahin wären verfassungswidrige Gesetze ungehindert anwendbar.
Aufgaben aus der Verfassung
Auch in Polen ist nicht zu erwarten, dass das Verfassungsgericht nach der Gesetzesänderung noch in der Lage sein wird, die PiS-Mehrheit effektiv an der Verwirklichung verfassungswidriger Absichten zu hindern. Darauf zielt das Gesetz, wie Äußerungen in der Debatte zeigen: „Das Recht ist eine wichtige Sache, aber es ist kein Heiligtum. Über dem Recht steht das Wohl des Volkes. Wenn das Recht dieses Wohl stört, dann dürfen wir es nicht als etwas ansehen, das wir nicht verletzen und ändern können.“ Und zur Opposition gewandt: „Wir verwirklichen alle unsere Versprechungen. Das Verfassungsgericht, in dem ihr eure letzte Zuflucht haben wolltet, wird uns dabei nicht stören.“
Deswegen liegt die Frage nahe, ob ein solches Gesetz nicht selbst verfassungswidrig ist. In Deutschland wäre das zweifellos der Fall. Ob es auch der polnischen Verfassung widerspricht, hat Polen selbst zu entscheiden. Hier können nur einige demokratie- und verfassungstheoretische Überlegungen eingeführt werden. Grundlage ist, dass die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Verfassung vorgesehen ist und ihre Aufgaben von ihr empfangen hat. Daran kann auch eine absolute Mehrheit nichts ändern. Gesetze, die dem Gericht die Erfüllung seiner verfassungsrechtlichen Aufgaben unmöglich machen, verletzen daher die Verfassung.
In eigener Sache tätig
Demokratietheoretische Erwägungen stützen diese Feststellung. In der Demokratie bildet das Volk die Quelle der Staatsgewalt. Es ist Inhaber der verfassunggebenden Gewalt. Die staatlichen Befugnisse können nur als Auftragsangelegenheit auf der Grundlage und in den Grenzen der Verfassung ausgeübt werden. Es steht nicht in der Macht der Regierenden, die Verfassung, von der sie ihre Befugnisse ableiten, um ihre Wirkung zu bringen. Entscheidet sich ein Volk für die gerichtliche Kontrolle der Staatsakte auf ihre Verfassungsmäßigkeit, so kann das Parlament als Auftragnehmer diese dem Volk zugeschriebene Entscheidung nicht umstoßen oder untergraben.
Auch Gesetze, die ein Verfassungsgericht betreffen, dürfen also von diesem Gericht nachgeprüft werden. Das Gericht gerät dabei allerdings in eine missliche Lage. Es ist nicht wie sonst der unbeteiligte Dritte, sondern wird in eigener Sache tätig. Überdies steht es vor der Frage, ob es in der alten oder der neuen Besetzung entscheidet und ob die alten oder die neuen Regeln anzuwenden sind. Da die neuen Gegenstand der Überprüfung sind, können sie wohl nur von dem alten Gericht unter Anwendung des alten Verfahrens geprüft werden. Aber es ist zu befürchten, dass die Mehrheit einem solchen Spruch die Legitimität abspricht und ihn nicht befolgt. Was dann?
Gegen die Verfassungsbindung der Staatsorgane
Viele Erwartungen richten sich unter diesen Umständen auf die EU. Ihre Mitglieder müssen einigen grundlegenden Werten entsprechen, zu denen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gehören. Gemäß Artikel 7 kann festgestellt werden, „dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Art. 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat besteht“. Ist das der Fall, kann die „Aussetzung bestimmter Rechte einschließlich des Stimmrechts dieses Mitgliedstaats im Rat“, jedoch kein Ausschluss aus der EU, beschlossen werden. Die Hürden für den Beschluss sind hoch. Die EU hat deshalb noch nie zu dieser Maßnahme gegriffen.
Käme es zu einem Sanktionsverfahren, müsste geklärt werden, ob eine Erschwerung der Aufgabenerfüllung durch das Verfassungsgericht, wie sie das polnische Gesetz bewirkt, als ein schwerwiegender Verstoß gegen die Werte der EU anzusehen wäre. Das ist nicht von vornherein klar. Wie gesagt gibt es Mitgliedstaaten der EU, die überhaupt kein Verfassungsgericht haben. Doch sind in diesen Staaten Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auch ohne Verfassungsgericht gewährleistet. Sein Fehlen stellt hier nicht die Verfassungsbindung der Staatsorgane in Frage. In Polen geht es der regierenden Partei aber gerade darum, sich von dieser Bindung zu befreien.
Im Alleinbesitz des Gemeinwohls
Der Versuch, das Verfassungsgericht zu entmachten, ist freilich nur ein Symptom für ein tiefer gelegenes Problem. Viele junge Demokratien haben bisher weder ein ausreichendes Demokratieverständnis noch eine ausreichende Verfassungskultur entwickelt. In einer Demokratie sind unterschiedliche Ansichten über das Gemeinwohl legitim. Die Verfassung überwölbt die Gegensätze aber, indem sie einen Vorrat von allen geteilter Grundsätze und Regeln festschreibt. Sie ermöglicht es so, den Konkurrenten nicht als Feind, sondern als Gegner zu betrachten. Aus der Wahrung dieses Basiskonsenses zieht die Verfassungsgerichtsbarkeit ihre Bedeutung.
Diese Vorstellung hat sich in vielen Neu-Demokratien bisher nicht etablieren können. Jede Seite wähnt sich im Alleinbesitz des Gemeinwohls, kann also im politischen Konkurrenten nur den Feind sehen. Der Wahlsieger identifiziert sich mit dem Volk. Die Minderheit wird dann zum Volksfeind, und unabhängige Veto- oder Kritikinstanzen erscheinen als ihre Bundesgenossen, die unschädlich zu machen sind. Für das Recht bleibt unter diesen Umständen nur noch eine instrumentelle Rolle. Es ist ein Mittel, die eigenen partikularen Auffassungen allgemeinverbindlich zu machen, ohne dabei selber an Recht gebunden zu sein. Die Entmachtung des Verfassungsgerichts verschärft diese Problematik.