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Wissenschaft in Krisenzeiten : Jenseits der Kernexpertise

Frustration und massive Kritik an der Krisenforschung: Chemie-Nobelpreisträger Michael Levitt im Jahr der Ehrung 2013 Bild: Reuters

Die Corona-Krise konfrontiert die Wissenschaft mit ungewohnten Herausforderungen. Was die neue Nähe der Forschung zur Politik bedeutet, diskutierten Nobelpreisträger bei den Lindauer „Online Science Days“.

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          Die Corona-Krise hat die Wissenschaft bereits jetzt zu einer anderen gemacht. Das gilt nicht nur für neue Praktiken beschleunigter und offenerer internationaler Kollaboration, das gilt auch für die Selbstverortung der Wissenschaft im Spannungsfeld zwischen Wirtschaft, Politik und Öffentlichkeit. Die Kluft zwischen einer um sich selbst kreisenden Forschung und den gesellschaftlichen Herausforderungen verlangt mehr denn je nach Brückenbauern.

          Sibylle Anderl
          Redakteurin im Feuilleton, zuständig für das Ressort „Natur und Wissenschaft“.

          Die Fragen, die sich den Forschern im Kontext der Krise stellen, bewegen sich jedoch für die meisten weit jenseits ihrer eigentlichen Kernexpertise: Wie kann und darf die Rolle als Politikberater angenommen und gestaltet werden? Welche inhaltlichen Abstriche sind bei der Kommunikation nach außen in Kauf zu nehmen? Wie ist mit der Verantwortung umzugehen, die den Wissenschaftlern so unverhofft zuteilgeworden ist?

          Selbstreflexion auf der Online-Plattform

          Die Lindauer Tagung der Nobelpreisträger scheint ein geeigneter Rahmen für die dafür notwendige kriseninspirierte Selbstreflexion zu sein. Mit jährlich wechselndem Schwerpunktthema hätte sie in diesem Jahr zum siebzigsten Mal Dutzende Nobelpreisträger mit Hunderten Nachwuchsforschern am Bodensee zusammengebracht, um gemeinsam das zu beschwören, was Wissenschaft in ihrer reinsten Form sein will. Geteilte Neugier steht im Vordergrund, Begeisterung für die Forschung, die grenzübergreifende Kollaboration und auch das Bewusstsein der eigenen Verantwortung für gesellschaftliche Herausforderungen. Die Pandemie hat ein Treffen in Lindau vereitelt, stattdessen fand in der vergangenen Woche eine digitale Version der Tagung als „Online Science Days“ mit rund tausend Nachwuchswissenschaftlern und -ökonomen sowie etwa vierzig Nobelpreisträgern statt.

          Wie groß die Herausforderungen sind, die derzeit an die Wissenschaftler und ihre Kommunikation nach innen und außen gestellt werden, zeigte in aller Deutlichkeit eine Diskussion, die sich der Rolle der Wissenschaft in Krisenzeiten widmete. Der Astrophysiker Saul Perlmutter und der Immunologe Peter Doherty benannten dort die Schwierigkeiten im Dialog mit der Politik, die Diskrepanzen in Sprache und Herangehensweisen, den Kontrast zwischen klaren politischen Botschaften und probabilistischen, stets unter Vorbehalt stehenden wissenschaftlichen Ergebnissen.

          Versagen der Wissenschaft

          Dominiert wurde die Diskussion aber durch den Biophysiker Michael Levitt, dessen Abrechnung mit der Krisenwissenschaft in ihrer Aggressivität alle Teilnehmer zu überrumpeln schien. Das Wissenschaftssystem habe seine Inadäquatheit bewiesen, die „illustren Institutionen“ wie Lindau, die Nobelstiftung oder die nationalen Akademien der Wissenschaften hätten nicht angemessen reagiert. Nicht in diesen Institutionen, sondern auf Twitter fänden sich die intelligenteren Gespräche. Die Wissenschaft habe versagt. Die tiefe persönliche Frustration, die aus diesen Statements sprach, stammte offenbar aus seinem mangelnden Erfolg, mit seiner Position als Lockdown-Kritiker in wissenschaftlichen Fachkreisen Gehör zu finden.

          Tatsächlich muten viele seiner Aussagen, wie etwa sein Werben für die Strategie der Herdenimmunität, angesichts der noch lückenhaften Informationen zur langfristigen Wirkung und Verbreitung von Sars-CoV-2 und vor dem Hintergrund der mittlerweile weltweit mehr als eine halbe Million Toten etwas realitätsfern an. Ähnlich wie seine Behauptung, Covid-19 sei „exakt so gefährlich wie die Grippe“. Letzteres Missverständnis konnte Peter Doherty unter Verweis auf die ihm nur allzu vertrauten medizinischen Details der Erkrankung schnell ausräumen. Andere, der faktischen Forschungs- und Datenlage widersprechende und nicht weiter belegte Behauptungen Levitts, wie die einer Herdenimmunität von 15 Prozent, wurden vom Moderator Adam Smith konfliktvermeidend wegmoderiert.

          Implizit demonstrierte die Diskussion damit, dass nicht nur die Kommunikation wissenschaftlicher Inhalte und deren Transfer in politische Handlungsempfehlungen aktuelle Herausforderungen sind. Die Wissenschaft muss sich inzwischen auch selbst darüber klarwerden, wie sie mit inneren, auch nach außen wirkenden Konflikten umgeht, wie sie auf Angriffe aus den eigenen Reihen reagiert und wie sie ihr Ideal einer offenen und zugleich kontroversen Diskussionskultur auch unter den kritischen Augen der Öffentlichkeit adäquat umsetzen kann. Peter Doherty versuchte es schließlich mit Sarkasmus. Die Strategie, durch Lockdown-Maßnahmen Menschenleben zu retten, habe zu deutlich weniger Toten geführt: „Die Menschen sehen es nicht gerne, wenn um sie herum andere Menschen sterben. Aus seltsamen Gründen stört es sie.“

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