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Netz ohne Anschluss : Es gibt keine digitale Gesellschaft

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Kafkas „Verwandlung“ mit einem Gregor Samsa 2.0 in einer aktuellen japanischen Bühnenversion mit Irene Jacob Bild: AFP

Wieso meinen viele, wir brauchten als Grundlage einer neuen Welt nur Technik? Was läuft in der „Netzgemeinde“ außer „Shitstorms“? Denken wir das Konzept künstlicher Intelligenz und der Herrschaft des Digitalen mal zu Ende: Wo bleibt der Mensch dann, als Wesen aus Fleisch und Blut?

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          Nicholas Negroponte hatte einige Jahre lang für das schicke Technologiemagazin „Wired“ Zukunftskolumnen über die Vergleichbarkeit von Atomen und Bits, über das Potential miniaturisierter elektronischer Apparate und das „Digitale“ geschrieben. Im Dezember 1998 setzte er in einem letzten „Wired“-Text einen verblüffenden Schlusspunkt: „Seht der Wahrheit ins Gesicht: Die Digitale Revolution ist vorbei“, rief er seinen Lesern zu. Das Digital-Sein werde so selbstverständlich wie das Atmen oder Wassertrinken, es habe sein Unterscheidungspotential verloren. Überraschende Veränderungen lägen jetzt anderswo, „in unserem Lebensstil und wie wir gemeinsam unser Leben auf diesem Planeten gestalten“. Negroponte kam dann auf die Energieversorgung, soziale Gleichheit und Geopolitik zu sprechen, ausgehend von den Wirkungen der „digitalen Revolution“, aber soziologisch darüber hinausweisend.

          Negroponte war Direktor und Mitbegründer des „Media Lab“ am „Massachusetts Institute of Technology“ (MIT), einer von amerikanischen Technologiekonzernen durchgesponserten Denkfabrik. Dort wurde im Gegensatz zur ärmeren, philologisch und kulturwissenschaftlich geprägten deutschen „Medienwissenschaft“ ganz praktisch zur Robotik, Dreidimensionalität oder künstlichen Intelligenz geforscht. In den neunziger Jahren, als Bertelsmann noch der zweitgrößte Medienkonzern der Welt war und man auch in Gütersloh Zukunftsentwürfe im Gefolge von Marshall McLuhan, Peter F. Drucker oder Heidi und Alvin Toffler anregend fand, galt Negroponte als führender Technologie-Guru. Einige seiner „Wired“-Kolumnen waren 1996 unter dem Titel „Total Digital. Die Welt zwischen 0 und 1 oder Die Zukunft der Kommunikation“ als Buch erschienen.

          Ein buntes Durcheinander

          Negropontes letzte Kolumne kam in Deutschland im doppelten Wortsinne nicht mehr an, denn da ging es mit dem „DigiBlabla“ (Tom Wolfe) erst richtig los. Politiker ließen sich mit Entrepreneuren der „New Economy“ fotografieren, hatten aber erst recht nach dem Börsen-Kollaps nicht recht begriffen, was die „Neue Ökonomie“ gewesen sein sollte. Da war die nüchterne Bundeskanzlerin Angela Merkel schon ehrlicher, als sie ein Jahrzehnt später das World Wide Web oder das „Wirtschaftswunder 4.0“ zum politischen „Neuland“ erklärte.

          Inzwischen ist die „New Economy“ durch die Konstruktion einer „digitalen Gesellschaft“ ersetzt worden. Ministerien, Verbände und Parteien überbieten sich mit Konferenzen, bei denen es ohne begriffliche oder theoretisch-historiographische Fundierung mit Zustandsbeschreibungen und Forderungen bunt durcheinandergeht. Zumeist bleibt es bei „schnellem Breitbandausbau auch in ländlichen Gegenden“, „freiem W-Lan für alle“ oder „neuer europäischer Technologiepolitik“ hängen.

          Ein Konzept aus dem siebzehnten Jahrhundert

          Dies sind keine unbilligen Wünsche. Teilnehmer an „netzpolitischen Abenden“, der Digi-Messe „re:publica“ in Berlin oder Nutzer der brav sozialdemokratischen Website „#digitalLeben („Die digitale Revolution wird alle Teile unseres Lebens umfassen. Das ist sicher“; „Martin Schulz würdigt Netzguru“ etc.) bekommen aber große und traurige Augen, wenn man ihnen erklären muss, dass es eine digitale Gesellschaft nicht gibt. Mitunter kommt es auch zu innerparteilichen Verstimmungen, wenn etwa der SPD-Parteivorsitzende Netzfeministinnen, die nach eigener Aussage „im Internet leben“, bedeutet, sie sollten sich öfter in die Welt der Ortsvereine, Landtagsfraktionen und Sozialverbände begeben.

          Fangen wir sanft an. Digitale Kommunikation ist, so schon Paul Watzlawick, jede Form des codierten Transfers von Zeichen und Symbolen - wenn wir etwa K-a-t-z-e schreiben, anstatt das Bild einer Katze zu zeichnen. Das Konzept einer rechnerischen Binärcodierung entstand in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts im Kopf des Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz, der sich wiederum auf Inspirationen aus China berief. Leibniz verknüpfte sein mathematisches Interesse am „Calculus“, an der Rechenmaschine, mit einem religiösen Dualismus: Die 0 ist das Nichts, die 1 repräsentiert göttliche Schöpfung und Fügung.

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