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Big Data und Politik : Brauchen wir noch Gesetze, wenn Rechner herrschen?

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Wer die Systeme programmiert, hat die Macht – politische Debatten werden obsolet: Bei Stanley Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum“ berieten immerhin noch Menschen, bevor das Raumschiff loszog. Bild: ddp Images

Algorithmen entscheiden, welche Paare sich finden, sie bestimmen Suchergebnisse und wickeln Aktiengeschäfte ab. Ersetzen sie bald auch Gesetze? Wie das Internet der Dinge die Politik verändert.

          7 Min.

          Im Juni 1972 sang der chilenische Volkssänger Ángel Parra ein Lied mit dem Titel „Litanei für einen Computer und ein Baby, das geboren wird“. Computer seien wie Kinder, und die chilenischen Funktionäre dürften sie nicht vernachlässigen.

          Zwei Jahre zuvor war der Sozialist Salvador Allende zum Präsidenten gewählt worden. Er wollte eine moderne Form des Sozialismus entwickeln. Also holte er sich den britischen Berater Stafford Beer ins Haus. Beer war alles andere als ein Marxist, er fuhr einen Rolls-Royce und besaß ein großes Haus in Surrey, aber er war ein begnadeter Informatiker. Gemeinsam hoben sie das Projekt Cybersyn aus der Taufe: Chiles Planwirtschaft sollte in Echtzeit von einem Kontrollzentrum aus gesteuert werden. In dem sechseckigen „Operation Room“ mit sieben konzentrisch angeordneten Ledersesseln wurden die Daten auf einem Bildschirm verarbeitet. Die Minister wollten sich hier zur Lagebesprechung treffen und die ökonomischen Parameter diskutieren. Ein Index sollte die Zufriedenheit der Menschen messen. Der Sozialismus sollte ins Computerzeitalter katapultiert werden: „Chile Run by Computer“, titelte eine Zeitung.

          Es ist eine Ironie der Geschichte, dass gerade eine sozialistische Regierung ein Big-Data-Experiment aufsetzte. Beer, der wie kein Zweiter die Notwendigkeit der digitalen Vernetzung verstand, sagte bei einer Vorlesung 1964 den prophetischen Satz: „Die Online-Computerkontrolle muss sensorisch mit Ereignissen in Echtzeit verknüpft werden.“ Das Internet der Dinge lag da noch in weiter Ferne.

          Millionen von Augen und Ohren

          Allende wurde vom Militär gestürzt, das sozialistische Experiment in Blut ertränkt. Doch Cybersyn gibt weiter zu denken. Lässt sich ein Staat, eine ganze Volkswirtschaft, von einem „Operation Room“ steuern? Gewiss, wir leben in keiner Planwirtschaft. Doch Googles Algorithmen bestimmen heute, was relevant ist. Automatisierter Handel (Algo-Trading) macht den Großteil des Börsenvolumens aus. In den Städten werden bald computergesteuerte Fahrzeuge unterwegs sein, deren Algorithmen ethische Dilemmata lösen müssen. Und übermorgen könnten Algorithmen die öffentliche Daseinsvorsorge lenken. Der Digital-Evangelist Tim O’Reilly prägte den Begriff der „Algorithmic Regulation“.

          Staatlichen Behörden stehen längst gigantische Datenmengen zur Verfügung. Parkautomaten nehmen schon heute individuelle Preisgestaltung vor – je nach Uhrzeit. Geschwindigkeitsbegrenzungen können, wie auf dem London Orbital Motorway, algorithmisch variiert werden, je nach Wetter- und Verkehrslage. Sogar öffentliche Toiletten sind mit Sensoren ausgestattet und melden, wenn das Klopapier zur Neige geht. „Wir haben Millionen von Augen und Ohren auf der Straße“, schreibt Michael Flowers, Chief Analytics Officer von New York City, in seinem Essay „Data-driven City“ („Beyond Transparency“).

          Mit Big Data ließen sich Brände besser bekämpfen als zuvor, schwärmt Flowers. Wenn die städtischen Behörden wissen, welches Haus in der Vergangenheit Feuer fing, und ein Profil von den Bewohnern und der Bausubstanz haben, können sie vorhersagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit wo der nächste Brand entstehen wird, und dort die Inspektoren zuerst hinschicken. Flowers schreibt: „Wir wissen, wann und wie ein Gebäude gebaut wurde. Wir wissen, ob das Haus an das Wassernetz angeschlossen ist und deshalb, ob es bewohnt ist. Wir wissen mehr als die Nachbarschaft.“ Die Stadt New York häuft massenweise Daten an. 30000 Anfragen gehen Tag für Tag bei den Behörden ein. Eine datengesteuerte Verwaltung könne proaktiv tätig werden und treffe die besseren Entscheidungen, lautet die Schlussfolgerung.

          Das Gemeinwesen der Zukunft?

          Die Gemeinde Louisville im amerikanischen Bundesstaat Kentucky hat ein „Office of Performance Improvement“ eingerichtet. Die Leistungen der Behörden werden in Echtzeit gemessen: Wie viele Stunden wurde gearbeitet, wie viele Arbeitsstunden gingen durch Krankheit verloren? Jeder kann die Daten online einsehen. Das erwies sich als effektiv. Die Kosten für Überstunden wurden um zwei Millionen Dollar reduziert. Die Stadt Boston hat eine App namens „Street Bump“ entwickelt, über die das Smartphone der Stadtverwaltung selbständig mitteilt, wenn eine Straße ein Schlagloch hat. Der Bürger wird Teil eines Sensoren-Netzwerks. Aber sieht so das Gemeinwesen der Zukunft aus?

          In der Stadt von morgen öffnen sich Fenster bei entsprechenden Windverhältnissen automatisch, intelligente Stromzähler drosseln die Wärmezufuhr, und bei Hitze werden die Scheiben der Gebäude verdunkelt. Nicht der Mensch denkt, sondern Systeme. Stafford Beer sagte schon 1975, Informationen seien eine „nationale Ressource“. Heute bestimmen Algorithmen nicht nur die Ergebnisse der Suchmaschinen im Internet und damit die Relevanz von Informationen. Sie bestimmen auch, wie Märkte funktionieren oder Wahlkämpfe geführt werden. Algorithmen dringen in die politische Sphäre vor – und damit in den Bereich der Hoheitsrechte der Staaten: In den Vereinigten Staaten wird seit Jahren über automatisierte Strafverfolgung diskutiert. Sanktionieren auf Knopfdruck: Der Autobahnraser muss nicht mehr aus dem Verkehr gezogen werden, sondern wird über sein GPS automatisch geortet und mit einer Geldbuße belegt. Verkehrskontrollen werden obsolet – das spart Geld.

          Big Data eröffnet den Behörden ganz neue Handlungsspielräume. Im Operation Center Rio laufen Bilder von rund tausend Überwachungskameras mit Daten zu Standorten verschiedenster Einsatzfahrzeuge (Polizei, Feuerwehr, Müllabfuhr) sowie Informationen zur Verkehrsdichte und zum Wetter zusammen. Mit Gesichtserkennung können Randalierer verfolgt und festgenommen werden. Es ist ein hypermodernes Cybersyn, das sich Beer nicht besser hätte ausdenken können – und soll die Stadt sicherer machen.

          Starre, technokratische Regeln sollen durch ein fluides und personalisiertes Feedback ersetzt werden. Warum ein Gesetz erlassen, das Taxifahrer bestraft, die ihren Sandwich-Abfall auf die Rücksitzbank werfen, wenn der Kunde online dieses Verhalten sanktionieren kann, indem er den Fahrer schlecht bewertet? Brian Chesky, der Geschäftsführer von Airbnb, sagte einmal, dass im Zeitalter der Sharing Economy jeder eine Marke sei. Ein Taxiunternehmen, das schlechten Service leiste, werde sowieso bald vom Markt verschwinden – wer braucht da noch Regulierung?

          Der Diskurs verschwindet

          Apologeten der algorithmischen Gesellschaftssteuerung halten Gesetze für etwas Antiquiertes. Zu allgemein, zu bürokratisch. Tim O’Reilly sagt zwar nicht, dass Gesetze unnötig seien. Doch der Analytiker begreift Politik von ihrem Ende her: Man hat gewisse Zielvorstellungen, an die sich die Politik halten muss. Etwa so wie die Notenbank den Leitzins anpasst, um die Inflation bei zwei Prozent zu halten. Dieser Idee liegt die Annahme zugrunde, dass Gesetze mit der dynamischen Entwicklung der Wirtschaft nicht mehr mithalten können. Die Börsenaufsicht SEC hat nach den Erfahrungen mit dem Betrüger Madoff Algorithmen zur Überwachung obskurer Hedgefonds eingesetzt. Die Finanzaufsicht ist überfordert. Marktversagen ist systemisch, und der Fehler im System kann nur durch Software entdeckt werden. Dabei ist es schon grotesk, dass Komplexität mit noch mehr Komplexität bekämpft wird.

          In Italien hat der Fiskus unlängst einen Einkommensmesser eingeführt, der das Ausgabeverhalten der Bürger mit ihren Steuererklärungen abgleicht und so Unregelmäßigkeiten entlarvt. Big Data trifft auf Big Government. Das System erwies sich als effektiv, jedenfalls effektiver, als die italienische Bürokratie normalerweise arbeitet. Der politische Raum verwandelt sich in ein kybernetisches System, wie der Thermohersteller Nest eines ist, den Google erworben hat. Die Informationen laufen in Echtzeit in eine Schaltzentrale und werden in verschiedene Programme eingespeist. Verwaltung als Automatismus. Die Algorithmen entscheiden selbständig, an welcher Stellschraube gedreht werden muss: Die Sprinkleranlage im Park muss repariert, die Straßenbahn gewartet oder Streugut für den Winter geordert werden. Das alles geschieht schneller, effektiver und ohne bürokratische Hürden.

          Der Internetphilosoph Evgeny Morozov nennt diese Politik „solutionism“. Probleme werden via Apps und Sensoren bearbeitet, die von Start-ups betrieben werden. Politik wird dabei auf Lösungen reduziert, der Diskurs verschwindet völlig. Es entsteht eine Politik ohne Politik. Für den italienischen Philosophen Giorgio Agamben geht damit eine epochale Transformation der Idee von Regierung einher. Die traditionelle hierarchische Beziehung zwischen Gründen und Effekten werde umgekehrt, so dass man, statt nach Gründen zu suchen, einfach auf die Effekte reagiere. Output- statt Input-Legitimation – politisches Handeln orientiert sich nur nach bestimmten Zielvorgaben.

          Die Umkodierung des Sozialen

          Das impliziert, dass man die Ziele kennt. Die Steuerung wiederum bedarf der Überwachung des Gemeinwesens. Das aber führt zu einem schwerwiegenden Verlust politischer Legitimation. Rechtmäßig verfasste Herrschaft entspringt freien Wahlen und bedarf Entscheidungsprozessen, die in einem bestimmten Korridor stattfinden. Der Rückgriff auf Daten unterminiert diese Entscheidungsfreiheit. Algorithmen sind ja nicht das Ergebnis einer Beratung oder eines demokratischen Aushandlungsprozesses. Sie werden vielmehr – meist autoritativ und von wenigen – festgelegt. Der Code wird in dieser Logik zum Gesetz.

          Tim O’Reilly teilt auf Nachfrage (selbstredend per E-Mail) mit: „Niemand sagt, dass algorithmische Regulierung jedes Problem löst. Aber in der heutigen datengesteuerten Welt müssen die Regierungen entweder dieses Werkzeug anwenden, oder es wird von jemandem anderen eingesetzt – gegen die Öffentlichkeit, welche eine Regierung repräsentieren soll.“ Für O’Reilly ist die algorithmische Regulierung eine Unausweichlichkeit. Bevor Google mit seinen autonomen Fahrzeugen den Verkehr steuert, muss der Staat auf den Plan treten.

          Die Netzgemeinde sieht eine „Algokratie“ heraufziehen, einen autoritären Staat, der von Computern und einer Elite von Programmierern beherrscht wird. Das Problem ist: Was in den „black boxes“ der Server lagert, wissen wir nicht. Es ist schwierig, Algorithmen zu demokratisieren. Das belegt das Beispiel Google. Der Europäische Gerichtshof hat mit Mühe ein Recht auf Vergessen etabliert. Google wurde daraufhin mit Lösch-Anfragen überhäuft, aber der Internetgigant lässt sich nicht in die Karten schauen – und schwerlich regulieren.

          Dem Staat und Unternehmen kommt zupass, dass mit der Algorithmisierung unseres Alltags unser Verhalten berechenbar und vorhersagbar wird. Dabei geht es nur vordergründig um Transparenz und Sicherheit. Mit Sensoren lässt sich das Verhalten auch steuern: In London ermahnen Mülleimer den vorbeilaufenden Passanten, seinen weggeworfenen Abfall doch besser in den Müll zu werfen. Das bietet nur eine Vorahnung auf das, was uns erwartet. Algorithmen implementieren durch die Hintertüre Normen – mit Tendenz zum „Nanny-State“. Der Rechtsprofessor Lawrence Lessig beschrieb in einem bemerkenswerten Beitrag „Code is Law“ im Jahr 2000, wie Codes Werte erzeugen. „Unsere Wahl ist nicht die zwischen Regulierung und Nichtregulierung. Der Code reguliert. Er implementiert Werte oder nicht.“ Wir erleben in der digitalen Welt eine Umkodierung des Sozialen – alles wird auf Effizienz und Marktförmigkeit ausgerichtet.

          Wo bleibt die Selbstbestimmung?

          Das hat den praktischen Vorteil, dass Entscheidungsträger ihre Verantwortung abwälzen können. Wenn politische Probleme auf Soll- und Ist-Werte reduziert werden, bleibt nicht mehr viel Raum für das Wie und Warum. Der Code ist kein funktionales Äquivalent zu einem Gesetz. Was gut und schlecht ist für ein Gemeinwesen, vermögen Algorithmen nicht zu bestimmen. Mit Szenarios und Prognosen ist kein Staat zu machen.

          Malte Ziewitz, Professor am Department of Science & Technology Studies der Cornell University, hat sich intensiv mit diesen Gedanken auseinandergesetzt. „Das Problem ist größer als die Algokratie“, sagt er im Gespräch. „Es gibt viele Bereiche im öffentlichen Leben, in denen Daten – und damit Algorithmen – eine wichtige Rolle spielen. Man denke an den Gesundheitssektor oder den Hochfrequenzhandel. Es ist nicht so, dass wir ein gut definiertes Modell demokratischer Governance dafür hätten. Letztlich hilft nur, sich genauer anzusehen, wie diese Systeme funktionieren, und unsere Schlussfolgerungen daraus zu ziehen.“

          Noch mag Cybersyn als eine Utopie erscheinen. Das Kanzleramt wird sich dereinst nicht in ein Kontrollzentrum mit Livestream und Schalthebeln verwandeln. Doch die Automatisierung politischer Prozesse wird unsere Selbstbestimmung nachhaltig einschränken. Es wäre ein Treppenwitz der Geschichte, wenn die Big-Data-Revolution ausgerechnet jene Kommandowirtschaft ins Werk setzen würde, welche die sozialistischen Kader in Chile planten.

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