Frostig, beschämt, befreit
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Neue Heimat oder Durchgangsstation: die armenische Hauptstadt Jerewan, vom Flugzeug aus gesehen Bild: Laif
Ein russischer Arzt und Schriftsteller auf der Flucht: „Wir hassen den Krieg, wir hassen den, der ihn entfesselt hat – und wollen raus aus Russland“. Ein Gastbeitrag.
Die drei Worte im Titel stammen von Sebastian Haffner, mit ihnen endet die englische Ausgabe seines Buchs „Geschichte eines Deutschen“, geschrieben am Vorabend des Zweiten Weltkriegs. Gebannt haben wir im letzten Jahr dieses Buch über das Aufkommen des Faschismus gelesen, darin Übereinstimmungen mit unserer aktuellen Situation gesucht und gefunden. Und nun bekamen viele von uns, die weggingen – nach Jerewan, Tbilissi, Baku, Astana, Istanbul, Tel Aviv, Samarkand – auch diese Worte am eigenen Leib zu spüren: frostig, beschämt, befreit.
Wir – das sind jene, die ihr Land verließen (davonliefen, flohen), kurz nachdem es die Ukraine überfallen hatte. Wir hassen den Krieg, wir hassen den, der ihn entfesselte, doch hatten wir nicht vor, unsere Heimat (unser Geburtsland, Vaterland) zu verlassen – all diese Wörter sind besudelt und entehrt. Als gefährlicher Unsinn ist dabei die Versuchung abzutun, sich als Blüte der Nation zu betrachten („Philosophenschiff“, „Das wirkliche Russland sind wir“ und dergleichen – auch solche Maßlosigkeiten sind zu hören). Einige meinen: Wenn du verlierst, erkennst du deinen wirklichen Wert. Wir werden es erleben, denn wir sind tatsächlich Verlierer, historisch und geistig. Hunderttausende, Millionen von Menschen, die unsere Gleichgesinnten sind, blieben dort und gehen ihren Tätigkeiten nach: Behandlung von Patienten, Versorgung betagter Eltern und anderer. Aber wie sehr wir Fortgegangenen uns auch vor den Gebliebenen schämen, so darf man nicht vergessen, dass die Wasserscheide zwischen uns Landsleuten an ganz anderer Stelle verläuft: zwischen Gegnern und Befürwortern dieses Kriegs.
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