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NSU-Abschlussbericht : Wie kaputt ein Teil dieses Landes sein muss

Die entwendete Dienstwaffe der 2007 in Heilbronn ermordeten Polizistin Bild: AP

Drei Bände, fast zweitausend Seiten, ein deutscher Roman: Der Thüringer Untersuchungsausschussbericht zum NSU liest sich wie ein großes literarisches Werk voller Widersprüche und Lügen.

          8 Min.

          „Gehe zum nächsten KZ“, das steht auf einer Karte des Neonazi-Spiels „Pogromly“, einer Karte, die einige Thüringer Verfassungsschützer vielleicht schon mehrmals gezogen haben. „Pogromly“ ist eine Art Monopoly für Rechtsextremisten, verkauft von Rechtsextremisten, um Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos im Untergrund zu finanzieren. Sieben Spiele wurden 2011 im Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz gefunden. Sieben Spiele für siebenhundert Mark, mit denen die Behörde Ende der neunziger Jahre die Untergetauchten mitfinanzierte. Warum sieben Exemplare? Vielleicht weil die Beamten ab und an selbst mal „Pogromly“ gespielt haben. Doch das ist nur eine persönliche, böse Mutmaßung ohne Beweis, die sich in den Kopf schleicht, wenn man den neuesten deutschen Roman liest, der eigentlich kein Roman ist – vielleicht aber doch.

          Nach der Lektüre dieser drei Bände sieht man Deutschland ganz anders: Beim Blättern im  Abschlussbericht des Thüringer NSU-Untersuchungsausschusses
          Nach der Lektüre dieser drei Bände sieht man Deutschland ganz anders: Beim Blättern im Abschlussbericht des Thüringer NSU-Untersuchungsausschusses : Bild: dpa
          Anna Prizkau
          Redakteurin im Feuilleton.

          Es ist der Untersuchungsausschussbericht zum NSU aus Thüringen. Drei Bände, fast zweitausend Seiten, die sich mit all ihren Figuren, Wendungen und Widersprüchen lesen wie ein großes literarisches Werk. Die Morde des NSU spielen darin aber kaum eine Rolle. Es geht um den Anfang, darum, wie drei junge Menschen sich anfreunden, Verbrechen verüben, untertauchen und nie gefunden werden. Besonders geht es aber auch um all diejenigen, die ihnen dabei zugesehen haben, um Menschen wie Helmut Roewer.

          Bizarre Behördenkomödie

          Roewer ist einer der vielen durchtriebenen, widersprüchlichen und gefährlichen Helden dieser zweitausend Seiten. Das Kapitel Roewer beginnt damit, dass sich niemand daran erinnert, wie er Leiter des Thüringer Landesamtes für Verfassungsschutz wurde. Er selbst kann es auch nicht, weil er betrunken war und eines Morgens wie eine Art glücklicher Gregor Samsa mit seiner Ernennungsurkunde aufwachte. Die anderen erinnern sich nicht mehr, weil sie keine Verantwortung für seine Fehler übernehmen wollen. Das Roewer-Kapitel liest sich zuerst wie eine bizarre Behördenkomödie. Auf einmal ist da dieser Leiter, der vielleicht mit sechs oder sieben Frauen bei Kerzenschein im Verfassungsschutzamt die Nächte durchfeiert, der seine Kollegen schikaniert, der abends Rotwein aus seinem Büro-Rotweinfässchen trinkt. Roewer leugnet das alles, hat gegen zwei geschwätzige Ex-Kollegen sogar Strafanzeige gestellt. Doch auch wenn die Geschichten nicht stimmen, sind sie doch mitreißend genug, um weiterzulesen. Und dabei muss man immer wieder kurz lachen: über die Intrigen in dieser deutschen Behörde, über die Kleinbürgerlichkeit, über das alberne Büro-Rotweinfässchen.

          Doch dann kommt wieder, worum es eigentlich geht: der Rechtsextremismus. Eine Zeugin berichtet, wie Roewer einmal erklärte, dass „das ,Dritte Reich‘ nicht nur schlechte Seiten gehabt habe“. Und sofort fragt man sich, warum so ein Mensch ein so wichtiges Amt leiten darf? Das erklärt sich damit, dass diese Behörde schon von Anfang an so obskur funktionierte wie das Steueramt in David Foster Wallace’ Roman „The Pale King“.

          Wer die Mitarbeiter ausgesucht hat, weiß man nicht, allerdings erinnert sich Harm Winkler, der den Verfassungsschutz nach der Wende die ersten drei Jahre leitete, dass man damals „wahrscheinlich“ keine Rechtsextremisten angestellt habe. Ein paar Seiten weiter erfährt man, dass dieses „wahrscheinlich“ wahrscheinlich nicht stimmt, denn da wird erklärt, dass mehrere Verfassungsschützer Aufsätze in Rechtsaußen-Verlagen veröffentlicht haben.

          Sympathisierende Sprache

          Und während solche „wahrscheinlich“ nicht rechtsextremistischen Figuren in einem Amt sitzen, das rechtsextremistische Figuren beobachten soll, wächst in den neunziger Jahren die radikale rechte Szene in Thüringen heran. Das wissen auch die Verfassungsschützer, das schreiben sie in ihre Berichte. Jahr für Jahr werden immer mehr rechte Verbrechen verübt. So erschreckend hoch die Zahl dieser Verbrechen, so erschreckend seltsam die Sprache der Berichte.

          So wird 1995 erklärt, dass es „vage Ansätze für die Bildung rechtsextremistischer Terrorgruppen“ gebe. Diese Ansätze werden dann aber in einer Sprache beschrieben, die beinah positiv klingt. Neonazis heißen da „Aktivisten der rechtsextremen Szene“, ihre „gute Ausstattung“ wird ausführlich beschrieben, auch der „Vorzug“, den sie damit haben, der besonders „bei der Koordinierung von Aufmärschen und laufenden Aktionen zum Tragen kommt“. Liest man das, muss man fast damit rechnen, dass am Ende die Rechtsextremisten noch eine Eins plus für ihre interne Organisation bekommen.

          Die sympathisierende Sprache durchzieht auch das Kapitel, das den V-Mann „Otto“ in die Handlung einführt. Euphorisch beschreibt ein Verfassungsschützer „Otto“ als „schillernde Persönlichkeit“, ein anderer nennt ihn eine „Top-Quelle“. Literarisch ist das alles höchstens auf unterem Bachmannpreisträger-Niveau, die Story bleibt aber spannend. Denn man erfährt, dass „Otto“ eigentlich Tino Brandt heißt, seit 1994 für den Verfassungsschutz arbeitet und parallel dazu den „Thüringer Heimatschutz“ (THS) aufbaut, eine rechtsextremistische Organisation, mit der Böhnhardt, Zschäpe und Mundlos groß geworden sind. Die Ideologie des THS ist menschenverachtend, die Strafregister der Mitglieder sind so endlos wie die Liste ihrer 1997 beschlagnahmten Waffen – und geht man die vielen Schreckschusspistolen, Baseballschläger und Messer durch, entsteht das Bild einer gefährlichen rechten Armee im Kopf des Lesers.

          Der Verfassungsschutz als böser Held

          Aber nicht in den Köpfen der damaligen Verfassungsschützer, die den THS immer wieder als einen „unstrukturierten Personenzusammenschluss“ bezeichnen. Und das ist auch einer der vielen seltsamen Gründe, warum das Ermittlungsverfahren gegen den THS wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung am Ende eingestellt wird. Während man dieses fast dadaistische Brandt-Kapitel weiterliest, fragt man sich ständig, warum der Verfassungsschutz diese terroristische Organisation unbedingt als nicht terroristische Organisation bezeichnen muss. Und bald hat man auch schon zwei Antworten darauf.

          Vielleicht ist es einerseits die klammheimliche Freude über die Glatzenkinder, die das sagen, was die Beamten eigentlich denken. Vielleicht geht es andererseits doch nur um Brandt, wenn es um den THS geht. Denn der Verfassungsschutz will auf keinen Fall seine wichtigste Quelle verlieren. Und mit einer Verurteilung Brandts als Anführer einer terroristischen Organisation hätte man ihn nicht mehr als V-Mann halten dürfen. Dafür sprechen die 35 Ermittlungsverfahren gegen Brandt, die zu keiner einzigen Verurteilung führten. So entwickelt sich das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz zu einem der bösartigsten Helden dieses Monumentalwerks. Und weil man so einem Verfassungsschutz mittlerweile alles zutraut, überrascht es nicht, dass Brandt für seine Arbeit insgesamt 200000 Mark bekam. Geld, mit dem er seine rechtsterroristische Gruppe finanzierte, sagen die Sachverständigen. Geld, das er sich verdient hat, sagen die Verfassungsschützer.

          Widersprüche, Lügen, Erinnerungslücken

          Ja, dieser Bericht ist ein großer Roman, weil man hier viel mehr über die deutschen Lügen und Leidenschaften erfährt als in den Büchern von Martin Walser oder Uwe Tellkamp; weil sich die menschliche Natur durch diese vielen Widersprüche und Lügen so schonungslos und unmittelbar offenbart wie in den Werken von Tolstoi. Und diejenigen, die sich hier immer wieder so erhellend widersprechen und lügen, unterscheiden sich nur in einem von den Helden der echten Romane: Sie können sich selten erinnern.

          Besonders eindrucksvoll verlieren sich die Erinnerungen bei den Berichten zur Durchsuchung von Böhnhardts und Zschäpes Garagen. Nach einer Observation sind sich die Beamten sicher: Böhnhardt ist ein Bombenbauer, Zschäpe und Mundlos sind seine Komplizen. Deshalb wird eine Durchsuchung ihrer Garagen beschlossen. Doch es kommt zu einem Chaos, das ein sehr deutsches Chaos ist, da es zumindest oberflächlich Gesetzen und Vorschriften folgt.

          Was genau an diesem Tag passiert ist, daran erinnert sich jeder ganz anders, und so entstehen insgesamt drei verschiedene Darstellungen jenes Januarmorgens. Die offizielle Version geht so: Ein Team soll die Garage von Böhnhardts Eltern durchsuchen, ein anderes die Garage, die Zschäpe gemietet hat. Während die einen Polizisten sich langsam auf den Weg machen, öffnen die anderen schon die Garage von Böhnhardt, er selbst begleitet die Beamten und will nach der Durchsuchung wegfahren. Da man bei ihm nichts gefunden und sowieso keinen Haftbefehl hat, lässt man ihn fahren. Dann kommt der Anruf vom zweiten Team, das bei Zschäpe Sprengstoff entdeckt hat. Doch Böhnhardt ist da schon weg.

          Eine Version und noch eine und noch eine

          In der zweiten Version – der literarisch anspruchsvolleren – erklärt ein Polizist, dass die Nachricht vom Bombenfund das erste Team viel früher erreicht habe, zu einem Zeitpunkt, als Böhnhardt noch da war. So hatte man zwar die Chance, ihn festzunehmen, tat es aber nicht, da es keinen Befehl von oben gab – sagt der Polizist.

          Die dritte Version ist fast schon Surrealismus. Böhnhardts Mutter glaubt nicht einmal daran, dass sich in Zschäpes Garage Sprengstoff befunden hat. Doch wie immer diese Durchsuchung auch verlief, das Ergebnis bleibt gleich: Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe gehen am 26. Januar 1998 in den Untergrund.

          Und so begreift man nach siebenhundert Seiten die zwei großen Motive, die sich durch dieses deutsche Werk ziehen. Es sind Verantwortung und Erinnerung – oder vielmehr das Nicht-Verantworten- und das Nicht-Erinnern-Wollen. Doch diese Motive werden so sehr überspannt, dass die Handlung sehr bald sehr absehbar wird.

          Versickernde Informationen

          Auch auf den nächsten sechshundert Seiten will sich niemand an irgendetwas erinnern, will niemand für irgendetwas Verantwortung übernehmen. Wie im Fall „Piatto“ zum Beispiel. „Piatto“, eigentlich Carsten Szczepanski, ist ein Fastmörder und bis 2000 Quelle des Landesamtes für Verfassungsschutz Brandenburg. 1992 schlägt er mit anderen Neonazis einen Flüchtling bewusstlos und wirft ihn in einen See. Er wird dafür verurteilt und sitzt im Knast. Irgendwann kommt ein Verfassungsschützer, und Carsten Szczepanski wird zu einer sehr gesprächigen Quelle. 1998 gibt er seinem V-Mann-Führer den Hinweis, dass die Untergetauchten auf eine Waffenlieferung warten und einen „weiteren Überfall planen“.

          Diese Information soll angeblich auch an das Thüringer LKA weitergegeben worden sein, wegen des Quellenschutzes jedoch nur mündlich. Beim LKA will aber keiner etwas davon erfahren haben. Wo diese wichtige Information stecken geblieben ist, weiß bis heute niemand.

          Die vorletzte Wendung dieser fast zweitausend Seiten ist die Beurteilung des Untersuchungsausschusses. Sie ist ein großer Verriss. Das ist so überraschend wie die Vorstellung, dass am Ende eines Romans noch eine Kritik beigefügt ist, die erklärt, wie widerwärtig das gesamte Werk eigentlich ist. So stellt der Ausschuss zum Beispiel fest, dass der „Verdacht gezielter Sabotage“ bestehe, dass der Thüringer Verfassungsschutz den Aufbau rechter Strukturen „mittelbar“ unterstützt und dass die damalige Stimmung in Thüringen die Radikalisierung des Trios gefördert habe. Die vernichtende, harte Kritik ist vielleicht das einzig Nicht-Deutsche an diesem Bericht, weil dort auf einmal nichts mehr verklärt wird.

          Und dann das große Relativieren

          Mit dem Verriss endet Band zwei. Es folgen noch fünf Monologe der einzelnen Ausschussmitglieder, nach Parteien geordnet, da jeder abschließend den Bericht noch einmal wertet. Als Erstes kommen die drei CDU-Abgeordneten. Sie sagen, man dürfe die besondere Situation in Thüringen nach der Wende nicht verkennen, da sich alles im Aufbau befunden habe. Okay, denkt man und liest entspannt weiter. Bis dann eine sehr bizarre Bemerkung kommt: Die unangemessen milde Reaktion der Justiz sei zwar mitverantwortlich für die Entstehung von Rechtsextremismus, dies sei aber „ein strukturelles Problem“ und liege „nicht in der Verantwortung der in Thüringen agierenden Beamten“. Und auf einmal will man nur schreien. Nach achtzehnhundert Seiten kommen da drei Menschen und relativieren, relativieren in typisch deutscher Manier: Nicht Menschen sind schuld, sondern Strukturen.

          So einen Bogen zu ziehen, so eine Wendung zu schaffen, das kann nur große Literatur, denkt man – und liest weiter. Zum Glück wollen wenigstens die anderen Parteien nichts relativieren, und deshalb hat man sich am Ende doch noch vom CDU-Schock erholt, sitzt dann vor diesen vielen gelesenen Seiten, und wie nach jeder guten, nervenaufreibenden Lektüre sieht man die Welt, zumindest Deutschland, auf einmal ganz anders. Man sieht ein Land, das man eigentlich nicht kennt, weil man ja nur in seinem eigenen kleinen, gemütlichen Deutschland herumgesessen hat, in kleinen, gemütlichen Restaurants seine Freunde aus aller Welt getroffen hat, mit denen man sich lächelnd über dieses und jenes unterhalten hat, aber nie über Deutschland.

          Wie kaputt ein Teil des Landes sein muss, das zeigen diese zweitausend Seiten, das zeigen ihre Helden, die in Wirklichkeit lebende Menschen sind. Will man in so einem Land eigentlich noch leben? Das ist die Frage, mit der dieses große Buch einen zuerst ratlos zurücklässt. Doch dann erinnert man sich an die ergreifende, fast apokalyptische Einsicht in die Schuld, an die scharfen Sätze des Ausschusses, die keine Silbe Verständnis für das kaputte Land dulden, die ein besseres Deutschland einfordern, und man denkt, dass alles so schlecht doch nicht sein kann. Und dieses große Werk über Deutschland ist der Beweis.

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