Ist klassische Musik kolonialistisch?
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Die südafrikanische Sopranistin Pretty Yende im September 2019 in Paris, wo sie die Partie der Violetta in Giuseppe Verdis „La traviata“ sang. Bild: AFP
Die Angriffe auf die globale Dominanz eines Werkkanons mit Bach und Beethoven im Zentrum werden immer heftiger. Populisten, Akademiker und Künstler beteiligen sich daran. Die Gründe sind oft ökonomischer Natur. Ein Gastbeitrag.
Dass kultureller Wandel nicht mehr in Jahrhundertschritten, sondern beinahe tagesaktuell geschieht, ist an kaum einem Begriff so gut sichtbar wie am Kanon. Konnte Marcel Reich-Ranicki vor zwanzig Jahren noch behaupten, dass ohne Kanon „nur Willkür, Beliebigkeit und Chaos und, natürlich, Ratlosigkeit“ existiere, und auf die journalistische Nachfrage nach dem Sinn irritiert reagieren, man müsse schließlich einen „Rückfall in die Barbarei“ vermeiden („Der Spiegel“ vom 18. Juni 2001), so hat die Kanon-Dämmerung mittlerweile alles und jeden erreicht, der sich mit Kultur befasst. Niemand glaubt heute noch ernsthaft daran, einen alle Menschen gleichermaßen befriedigenden Kanon aus Literatur, Musik oder Kunst aufstellen zu können. Und wäre die 1977 ins All geschossene Raumsonde „Voyager“ noch erreichbar, die von 27 Musikstücken des Planeten Erde dreimal Bach und zweimal Beethoven für extraterrestrische Finder dokumentiert, wäre sie längst von Kanonkritikern wieder zurückgewünscht worden. Für die nächsten fünfhundert Millionen Jahre wird sie nun einen klingenden Kanon in andere Galaxien tragen, der in seiner Zusammenstellung schon jetzt kaum mehr ist als ein historisches Dokument.
Während eine konstruktive Debatte um die Flexibilisierung des seit dem neunzehnten Jahrhundert etablierten Kanons aus west- und mitteleuropäischen Meisterwerken nur zu begrüßen ist, weil sich moderne Kultur nur in steter Selbstreflexion selbst erhalten kann, hat das Thema seit einigen Jahren eine unangenehme ideologische Schlagseite erhalten. Historisch gesehen ist das zunächst einmal ein alter Hut: Wenn vermeintlich oder tatsächlich „von oben“ angeordnete Kunst andere Kunst zu lange verdrängt oder auch nur behindert, setzt eine Dynamik um Altes und Neues ein, die in fruchtbare Achsenzeiten mündet, die aus der historischen Rückschau oft nachhaltige ästhetische Impulse gegeben haben und als wegweisend erkannt worden sind. Insofern könnte man sich nun getrost zurücklehnen und der postkanonischen Debatte zuversichtlich lauschen. Allerdings: Der Kanon taucht in den aktuellen Diskussionen immer seltener als kreative Herausforderung für Kulturschaffende auf, sondern als Reizwort. Er ist, und dies oft unreflektiert, zum pauschalen Sinnbild für falsche Realitäten in der Vergangenheit und Gegenwart geworden. Dabei wird nicht mehr zwischen dem von Menschen konstruierten Kanon und seinem künstlerischen Inhalt unterschieden, mit dem Ergebnis, dass eine Feindseligkeit gegen klassische Musik in akademischer Lehre, musikalischer Ausbildung und im Konzertwesen international Fahrt aufnimmt und seltsame Blüten treibt.
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