David Grossmans Corona-Tagebuch : Die Phantasie sieht nicht nur schwarz
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Am Damaskustor der ummauerten Altstadt von Jerusalem Bild: AFP
Möglicherweise werden sich manche nun erstmals fragen, warum Israelis und Palästinenser sich von einem Konflikt, der längst beigelegt sein könnte, das Dasein unerträglich machen lassen. Ein Gastbeitrag.
Sie ist größer als wir, die Seuche. Sie ist stärker als jeder Feind aus Fleisch und Blut, dem wir je gegenüberstanden, stärker als alle in Träumen und Filmen von uns erfundenen Superhelden. Manchmal schleicht sich ein Gedanke ins Herz, der das Blut gefrieren lässt: Ob wir diesmal, in diesem Krieg gegen die Pandemie, vielleicht verlieren, und zwar richtig verlieren? Eine weltweite Niederlage. Wie in den Tagen der Spanischen Grippe. Ein Gedanke, der sofort vertrieben wird, denn hallo, wieso sollten wir plötzlich verlieren? Schließlich sind wir die Menschheit des 21. Jahrhunderts! Progressiv, computerisiert, mit zahllosen zerstörerischen Waffensystemen ausgerüstet, von Antibiotika geschützt, immunisiert ... Und dennoch sagt uns etwas an ihr, an dieser Plage, dass die Spielregeln diesmal andere als die bisher gewohnten sind, man könnte sogar so weit gehen zu behaupten, es gäbe zurzeit überhaupt noch keine Spielregeln. Mit Schrecken zählen wir stündlich die in aller Welt Erkrankten und Gestorbenen. Der Feind aber, der uns gegenübersteht, lässt kein Anzeichen von Ermüdung erkennen, wenn er unverdrossen weiter Beute macht. Wenn er unsere Körper benutzt, um sich zu vermehren.
Es ist etwas an der Gesichtslosigkeit dieser Seuche, an ihrer bedrohlichen Leere, das unser plötzlich so verletzlich und hilflos wirkendes Wesen ganz und gar aufzusaugen droht. Den unzähligen Worten, die in den letzten Monaten über sie gesprochen wurden, ist es nicht gelungen, die Feindin begreiflicher und berechenbarer zu machen.
„Eine Plage ist nicht auf den Menschen zugeschnitten, daher sagt man sich, dass sie unwirklich ist, ein böser Traum, der vorübergehen wird“, schreibt Albert Camus in „Die Pest“. „Aber er geht nicht immer vorüber, und von einem bösen Traum zum nächsten sterben Menschen. Sie dachten, alles sei für sie noch möglich, was voraussetzt, dass Plagen unmöglich sind. Sie machten weiter Geschäfte, sie bereiteten Reisen vor, und sie hatten Meinungen. Wie hätten sie an die Pest denken sollen, die Zukunft, Ortsveränderungen und Diskussionen aufhebt?“
Wir wissen es bereits: Ein bestimmter Prozentsatz der Bevölkerung wird sich anstecken. Ein bestimmter Prozentsatz wird sterben. In den Vereinigten Staaten spricht man von mehr als einer Million Menschen, die sterben werden. Der Tod ist jetzt konkret. Wem es gelingt, der verdrängt. Wer aber, wie der Autor dieser Zeilen beispielsweise, eine leicht erregbare Einbildungskraft hat, weswegen seine Aussagen mit Vorbehalt und Skepsis zu genießen sind, der fällt seiner blühenden Phantasie anheim und lässt sich Szenarien einfallen, deren Multiplikationsgeschwindigkeit der der Viren in nichts nachsteht. Nun strahlt fast jeder Mensch, dem ich begegne, auf Anhieb die verschiedenen Varianten seiner Zukunft im Roulette der Pandemie aus. Mein Leben ohne ihn. Sein Leben ohne mich. Könnte nicht jede Begegnung, jede Unterhaltung die letzte sein?
Immer enger zieht sich der Kreis um uns zusammen. Zuerst hieß es: „Wir verriegeln die Himmel“ (welch ein Ausdruck!). Dann mussten die beliebten Cafés ihre Türen schließen, die Theater, die Sportplätze, die Museen. Die Kindergärten, die Schulen, die Universitäten. Eins ums andere löscht die Menschheit ihre Leuchtfeuer aus.
Niemand bleibt ausgeschlossen
Ganz unerwartet ist eine Katastrophe biblischen Ausmaßes in unser Leben geschlichen. „Dann sandte der Ewige dem Volk eine Seuche“ – und der ganzen Welt. Jeder Mensch weltweit nimmt an diesem Drama teil. Niemand bleibt ausgeschlossen. Niemand ist weniger intensiv betroffen als ein anderer. Doch wie es typisch ist bei massenhaftem Sterben, haben die Toten, die wir nicht kennen, kein Gesicht, bleiben anonym, nurmehr eine Zahl. Schauen wir aber in dieser Situation die uns Nahestehenden an, unsere Liebsten, dann spüren wir, in welchem Maß jeder Mensch eine ganz eigene, unendliche Kultur in sich birgt, deren Verschwinden der Welt etwas wegnähme, für das es keinen Ersatz geben kann und wird. Aus jedem schreit plötzlich seine Einmaligkeit, und so, wie die Liebe uns dazu bringt, aus den durch unser Leben strömenden Menschen einen einzigen herauszufischen, so erkennen wir jetzt, dass das Bewusstsein des Todes ein Gleiches tut.