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Debatte um Sterbehilfe : Niemand stirbt für sich allein

  • -Aktualisiert am

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichtes bei einer Verhandlung über Sterbehilfe: Sibylle Kessal-Wulf, Vorsitzender Andreas Voßkuhle, Peter Huber, Johannes Masing und Ulrich Maidowski (v.l.n.r.) Bild: dpa

Das Verfassungsgericht prüft Beschwerden zur Sterbehilfe. Bisher hat die Rechtsprechung die generelle Hilfsbedürftigkeit des Individuums unterschätzt, mahnen zwei Psychiater in ihrem Gastbeitrag.

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          Seit mit technischen Instrumenten in den Sterbeprozess eingegriffen wird, scheint die Angst vor dem Sterben zugenommen zu haben. Ob und wie gestorben wird, hängt heute nicht mehr nur von der Natur, sondern auch von anderen Menschen und einer als unmenschlich erlebten Medizintechnik ab. Die Befürchtung, am Lebensende von Maschinen abhängig zu sein, die das Leben künstlich und grausam verlängern, weckt den Wunsch, das Sterben genau festzulegen und den Ablauf selbst in der Hand zu halten. Die damit einhergehende Forderung nach der Option des assistierten Suizids hat zu Verfassungsbeschwerden geführt.

          Die Legalisierung des assistierten Suizids beträfe nicht nur unheilbar kranke Menschen, denen ein langes Leiden erspart werden soll. Kürzlich wurde ein Arzt gerichtlich bestätigt, der eine Patientin mittleren Alters beim Suizid begleitet hatte, die an einem Reizdarmsyndrom, also an einer psychosomatischen Erkrankung, litt. Dieser Tod wäre bei angemessener therapeutischer Hilfe möglicherweise vermeidbar gewesen.

          Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichtes prüft derzeit Beschwerden gegen das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung, das in Paragraph 217 des Strafgesetzbuches geregelt ist. Die Beschwerdeführer gehen vom Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen aus: Wenn Betroffene ihren Wunsch zu sterben nicht selbst verwirklichen können oder wollen, sollte ärztliche Hilfe nach ihren Vorstellungen den Suizid ermöglichen. Derzeit untersagt auch die ärztliche Musterberufsordnung der Bundesärztekammer den ärztlich assistierten Suizid. Es heißt dort in Paragraph 17: „Ärztinnen und Ärzte haben Sterbenden unter Wahrung ihrer Würde und unter Achtung ihres Willens beizustehen. Es ist ihnen verboten, Patientinnen und Patienten auf deren Verlangen zu töten. Sie dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten.“

          Selbstbestimmung als höchster Wert

          In den letzten Jahrzehnten hat sich im Zuge gesellschaftlicher Individualisierung die Einstellung zu Sterben und Tod in der Weise gewandelt, dass die Selbstbestimmung des Menschen ganz in den Vordergrund gerückt wird. Der Eindruck des universal Machbaren hat dabei die Wahrnehmung der Begrenztheit menschlicher Möglichkeiten und die zentrale Bedeutung der Sterblichkeit verdrängt. Die Verwurzelung und Abhängigkeit des Menschen von zwischenmenschlichen Beziehungen, denen er seine Existenz verdankt, ja seine Schwäche und Hilfsbedürftigkeit gerade am Ende seines Lebens sind in den Hintergrund getreten. Diese Entwicklung wird als Ausdruck gesellschaftlichen Fortschritts erlebt.

          Von wesentlicher Bedeutung für das kommende Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist das Menschenbild, das der Entscheidung zugrunde gelegt wird. Die Bestimmung des Individuums über sich selbst gilt als höchster Wert der westlichen Zivilisation und wird auch die Entscheidung der Richter des Bundesverfassungsgerichts beeinflussen. Tatsächlich hat sich das Individuum in der westlichen Welt von vielen gesellschaftlichen Zwängen und Normen emanzipieren können. Die Auflösung von Bindungen, die als einengend empfunden werden, wird als Befreiung gewertet. Angewiesenheit auf andere wird dagegen reflexhaft mit hilfloser Abhängigkeit assoziiert.

          Das Argument selbstbestimmter Entscheidungsfreiheit verschleiert jedoch die existentielle Abhängigkeit des Einzelnen von psychischen Bedürfnissen, von den Gesetzen der Natur und von denen des Marktes. Der Mensch ist von Anfang an ein soziales Wesen und bleibt es lebenslang. Er ist eingebettet in Beziehungen, ohne die er nicht existenzfähig ist. Jeder Suizid betrifft die Mitmenschen deshalb in ganz besonderer Weise und löst bei den Hinterbliebenen oft Schuldgefühle aus.

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