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Corona und die Religionen : Die unsichtbare Frontlinie

Mehr Gemeinde ist nicht drin: In der Pfarrkirche Achern in Baden-Württemberg findet ein Gottesdienst vor leeren Bänken statt. Gemeindemitglieder hatten ihre Fotos geschickt, die sie vertreten mussten. Bild: dpa

Staatstragenden Religionsgemeinschaften fällt es besonders schwer, Gotteshäuser zu schließen. Doch jetzt bezeichnet selbst Putins Beichtvater die Selbstisolation als heilige Christenpflicht im Weltkrieg gegen die Krankheit.

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          Donald Trumps bald wieder zurückgenommener Vorschlag, ausgerechnet zu Ostern die Corona-Restriktionen zu lockern, sei die unverantwortlichste Äußerung, die je ein amerikanischer Präsident getan habe, ereiferte sich Ruth Marcus, die politische Kommentatorin der „Washington Post“. Nach einem Sturm der Entrüstung von Gesundheitsexperten und Lokalpolitikern wollten dann auch seine konservativen evangelikalen Unterstützer Trumps „wundervolle“ Vision von vollen Kirchen am christlichen Auferstehungsfest nur symbolisch verstehen, als Traum von einem Dankgottesdienst nach der Krise. Denn ihnen dürfte klar sein, dass religiöse Feste zu den gefährlichsten Infektionshotspots gehören – neben Sportveranstaltungen und Volksfesten. Letzteres, nämlich die Karnevalsumzüge des Mardi Gras, waren der Grund für den sprunghaften Anstieg der Corona-Fälle im Bundesstaat Louisiana, dem zweiten Hauptherd der Seuche nach New York.

          Kerstin Holm
          Redakteurin im Feuilleton.

          Überall auf der Welt haben sich die Religionsgemeinschaften als „Superverbreiter“ der Pandemie erwiesen. Im Elsass wurde die Fasten- und Gebetswoche der Freikirche „La porte ouverte chrétienne“, die zweitausend Menschen anzog, zum Katalysator. Die Gläubigen brachten das Virus in die Bretagne, die Normandie und in die französische Nationalversammlung. In Südkorea stehen mehr als sechzig Prozent der nachgewiesenen Infektionen in Verbindung mit der Sekte „Shincheonij Church of Jesus“, die viele Menschen aus prekären Verhältnissen anzieht, das baldige Ende der Welt verspricht und ihre Anhänger lehrt, sie sollten Krankheiten nicht fürchten. In Iran wurde die heilige Stadt Ghom zum Zentrum der Ausbreitung, wo der Schrein der dort begrabenen Fatimah Masumah, der Tochter des Imams der schiitischen Muslime, von Pilgern berührt und geküsst wird. Lange weigerten sich die Behörden, den Schrein, der die Menschen vor körperlichen und spirituellen Leiden bewahren soll, zu schließen. Selbst die Regierung räumte ein, sie habe zu spät gehandelt.

          Koranverse als Medizin

          In vielen asiatischen Ländern ist die enge Allianz von Religion und Politik ein Faktor, der es den Machthabern schwermacht, Gotteshäuser zu schließen und religiöse Veranstaltungen abzusagen. In Pakistan wurde Covid-19 von Pilgern eingeschleppt, die von einem Heiligtum in Iran zurückkehrten. Pakistans Präsident Arif Alvi twitterte zwar, er bete nur noch zu Hause, bat aber zugleich Allah für diese „Sünde“ um Verzeihung und begründete sie nicht medizinisch, sondern mit einer Koransure, wonach Kranke und Gesunde nicht zu vermischen seien. Sogleich erklärte ein prominenter islamischer Fernsehprediger das Rezitieren von Koranversen zum Heilmittel gegen Corona. Auch in Malaysia wurde eine internationale islamische Massenveranstaltung im Februar zum Hotspot, auf den zwei Drittel der bestätigten Corona-Fälle im Land zurückgehen. Teilnehmer verbreiteten das Virus von dort weiter nach Thailand, Kambodscha, Vietnam und auf die Philippinen.

          Die soziale Distanz, die die meisten religiösen Gemeinden ihren Mitgliedern verordnet haben, rüttelt an ihren Fundamenten. Denn Glauben beruht auf Gemeinschaft. Im Islam ist das kollektive Freitagsgebet für Männer Pflicht. Im Judentum müssen zehn Männer zusammenkommen, damit ein vollständiger Gottesdienst gefeiert werden kann. In Israel widersetzten sich die ultraorthodoxen Juden der Schließung geistlicher Hochschulen und haben jetzt die höchsten Infektionsraten. Bei den christlichen Konfessionen sträubten sich zumal griechisch-orthodoxe Kleriker gegen das Verbot von Gottesdiensten mit dem Argument, die heilige Kommunion könne prinzipiell keine Krankheit übertragen. Doch seit Griechenlands Ministerpräsident Mitsotakis ein Versammlungsverbot auch über die Kirche verhängte, sekundiert ihm ihr Oberhaupt, Erzbischof Hieronymos Liapis von Athen, indem er die Wohnungen der Gläubigen zu „Festungen des Überlebens“ erklärte und die Menschen aufforderte, kleine Kirchen aus ihnen zu machen.

          Nach langem Zögern forderte vergangenes Wochenende auch der Moskauer Patriarch Kirill die Gläubigen auf, wegen der Pandemie den Kirchen fernzubleiben. Der konservative Bischof von Pskow, Tichon, der als Beichtvater von Präsident Putin gilt, spricht in einer Videopredigt von einem neuen Weltkrieg gegen die Seuche. Seien wir treue Kämpfer, sagt der charismatische Tichon mit rauher Stimme, helfen wir den Medizinern an der Frontlinie! Versündigen wir uns nicht durch Leichtsinn, der Leben kosten kann; verhalten wir uns, als seien wir infektiös, mahnt der Gottesmann. Dann werde der Feind sich zurückziehen, und Russland werde seinen Vorfahren, die vor fünfundsiebzig Jahren den Großen Sieg errangen, keine Schande machen.

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