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Coronavirus in Italien : Die Reifeprüfung

Es stimmt, einige meiner Mitbürger haben ein Verhalten an den Tag gelegt, das auch mich zunächst dazu verleitet hat, sie als verantwortungslos zu stigmatisieren. Auch die Medien haben in den ersten Tagen der Epidemie schwere Fehler begangen. Sie warnten nicht mit ihrer Berichterstattung, sondern betrieben Alarmismus. Panikmache und Sensationsjournalismus sind auch eine Form von Verantwortungslosigkeit. Wenn Menschen eine noch nie dagewesene, tödlichen Bedrohung erleben, dann tendiert die kollektive Psyche zu Extremen. Die Bedrohung wird entweder vollkommen unterschätzt nach dem Motto: „Es ist ja nur eine Art Grippe“, oder die Reaktion ist eine unverhältnismäßige Panik im Sinne von: „Es ist eine Art Pest, wir sind alle erledigt.“ Diese Hysterisierung der Gefahr ist typisch für eine Gesellschaft, die immer eher vermittelte als reale Erfahrungen gemacht hat und in der vor allem das „Böse“ des eigenen Zeitalters die Dimension der kollektiven Vorstellungskraft bestimmt. Ich spreche von Krieg und Terrorismus, von Umweltkatastrophen und massenhafter Migration. Ich gehöre der Generation an, die 20 Jahre alt war, als mit dem Golfkrieg zum ersten Mal ein Krieg in unserem Namen geführt wurde. Aber für uns war das nicht mehr als ein Fernsehabend, erstmals in der Menschheitsgeschichte wurde live von einer Front berichtet. Und wir waren 30 Jahre alt, als wir am 11. September 2001 den Einsturz des World Trade Centers im Fernsehen mitverfolgten. Es war ein epochales und traumatisches Ereignis, aber für die Mehrheit der Menschen, auf die dieser Terrorakt letztendlich zielte, war es vor allem ein Medienereignis. Dasselbe gilt für die Migrationsströme, die an unseren Küsten landen. Für die Migranten sind sie die Landungsstrände einer tragischen Odyssee. Für uns aber bleiben sie die Strände unserer Sommerferien. Wir laufen zwar über denselben Sand, aber wir sind nicht wirklich an demselben Strand. Sie sind Migranten, wir bleiben Badegäste. Es ist eine Begegnung der besonderen Art, das sollte man sich bewusst machen. Der Zustand der kollektiven spätmodernen Psyche macht uns unreif für tragische Ereignisse. Sie treffen uns deshalb sehr tief. Dennoch bin ich mir sicher, dass ganz Italien, als Staat und als Volk, gerade großen Mut, Engagement und Ernsthaftigkeit zeigt, gerade weil es in unser aller Leben bisher nichts Vergleichbares gab, das uns auf eine solche Prüfung vorbereitet hätte.

Das Streben nach persönlicher Selbstverwirklichung hat in den westlichen Gesellschaften einen hohen Stellenwert. Ist das jetzt die Quittung dafür?

Ich würde es nicht als eine Art göttlicher Strafe für unseren Hedonismus und Egoismus interpretieren. Sicher, wir waren die glücklichste Generation der Geschichte, die Jeunesse dorée der Menschheit. Wenn ich glücklich sage, meine ich nicht den Gefühlszustand. Frühere Generationen, die weniger wohlhabend und auf eine verzweifelte Art lebendig waren, sind vielleicht glücklicher gewesen. Ich spreche vom schicksalhaften Glück. Anfang der Siebziger in Italien oder Westdeutschland geboren worden zu sein, hat unsere Generation zum wohlhabendsten, gesündesten, sichersten, am besten gekleideten und ernährten sowie verhätschelsten Stück Menschheit gemacht, das je auf Erden gewandelt ist. Ich behaupte nicht, dass diese Privilegiertheit den Einzelnen immer vor Leid, Widrigkeiten oder Krankheiten bewahrt hätte. Ich spreche von schweren kollektiven historischen Erfahrungen, von geteilten Schicksalsschlägen. Was das angeht, waren wir vom Schicksal geküsst. Man muss sich ja nur einmal die Biographien unserer Väter und Großväter anschauen. Einige von Ihnen erlebten zwei Weltkriege, einen Kolonialkrieg und die Spanische Grippe, die weltweit in nur zwei Jahren zehn Millionen Menschen tötete.

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