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Eklat in Frankfurt : Buhs für Roth

Claudia Roth Bild: Imago

Bei einem Musikwettbewerb in Frankfurt wurde Kulturstaatsministerin Claudia Roth fünf Minuten lang ausgebuht. Der Veranstalter, der Zentralrat der Juden in Deutschland, äußert Verständnis für die Störer. Wie ist das zu verstehen?

          3 Min.

          Die Buhrufe, die Claudia Roth entgegenschlugen, als sie am Freitag in der Frankfurter Festhalle ein Grußwort zur Eröffnung der Jewrovision 2023 sprach, eines Ge­sangswettbewerbs für Kinder und Jugendliche aus den jüdischen Ge­meinden, waren nicht spontan. Anna Staroselski, Vizepräsidentin der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, ver­breitete auf Twitter Fotos handgeschriebener Plakate, die Teilnehmer des Wettbewerbs schon vor dem Auftritt der Kulturstaatsministerin angefertigt hatten: „Frau Roth, wir wollen Sie hier nicht!!!“

          Nichts, was Claudia Roth sagte, löste den Unmut aus. Auch nichts, was sie zu sagen versäumt hätte. Der Protest richtete sich gegen Claudia Roth als Person. Man misstraut ihr, weil sie 2019 gegen die BDS-Resolution des Bundestags stimmte, und nimmt ihr nicht ab, dass sie beteuert hat, aus der Unterschätzung des Antisemitismusverdachts im Vorfeld der Documenta 15 ihre Lektion gezogen zu haben. In diesem Sinne verkündete ein weiteres der Plakate in handgeschriebenen Großbuchstaben: „Kein Platz für Antisemitismus“; daneben ein Pfeil im Sinne von: Da ist die Tür.

          Fünf Minuten Rede und Gebrüll

          Jedes Gespräch mit Claudia Roth gilt als zwecklos, jede Bekundung des guten Willens ihrerseits als Heuchelei. Daher konnte sofort losgebrüllt werden, als sie das Wort ergriff. Staroselski, die auch Sprecherin des Vereins Werteinitiative und Mitglied der FDP ist, kommentierte auf Twitter einen Videoausschnitt der Rede mit dem Satz „Mission Reinwaschen ist gescheitert“. Auch das bezog sich nicht auf den Inhalt der Rede, sondern feierte den lautstarken Entzug des Vertrauens als politische Tat. Dass die Geschmähte ihre Rede nicht abbrach, wurde hinterher hämisch kommentiert. Wie ein Bulldozer habe sie weiter in den Saal geschrien, sagte Abraham de Wolf, Sprecher des Arbeitskreises jüdischer Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten.

          Zuerst und zuletzt schrien jedenfalls ihre Gegner. Bis zum Ende der fünfminütigen Rede hielt das Gebrüll an: „Claudia Roth go home!“ und „Runter von der Bühne!“ Die Jewrovision wird vom Zentralrat der Juden in Deutschland veranstaltet. Nach bürgerlichem Comment hätte man nach dem Eklat von Seiten des Veranstalters eine Bekundung des Be­dauerns über den Versuch erwartet, eine Rednerin am Reden zu hindern. Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats, hatte die Staatsministerin nach Frankfurt eingeladen. Aber nicht nur unterblieb eine Entschuldigung oder wenigstens eine Missbilligung des grob unhöflichen Umgangs mit dem Ehrengast. Im Gegenteil äußerte der Zentralrat auf Anfrage der Zeitung „Der Tagesspiegel“ Verständnis für die Störer. „Bei der Jewrovision 2023 hat sich lange aufgestauter Frust deutlich entladen. Das ist die Konsequenz der Entwicklungen im deutschen Kulturbetrieb der vergangenen Jahre.“

          Der Zentralrat hätte sich da­rauf zurückziehen können, dass er die jugendlichen Teilnehmer und ihre Betreuer aus den Gemeinden nicht zur Freundlichkeit gegenüber politischen Gästen verpflichten konnte. Es wäre auch möglich gewesen, den An­griff der Schreihälse als ungehöriges Mittel zum Ausdruck einer Stimmung zu bewerten, die der ausgebuhten Politikerin gleichwohl zu denken ge­ben müsse. Die Stellungnahme des Zentralrats geht weiter.

          Jahrzehntelang wahrte er in öffentlichen Einlassungen zur deutschen Politik eine quasi-diplomatische Zurückhaltung. Das Rollenverständnis des Zentralrats hat sich geändert, wie in der Documenta-Debatte an den Tag getreten ist. Dass die Juden keine Staatsbürger zweiter Klasse sind, kommt heute auch darin zum Ausdruck, dass ihre Interessenvertretung sich ebenso deutlich zu Wort meldet wie die organisierten Vertreter anderer Interessen. Dazu gehört die Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Akteuren und das Aufgreifen publizistischer Initiativen.

          Aber wie sieht es mit der Deutlichkeit der Botschaft aus, die der Zentralrat Claudia Roth jetzt über die Presse hat zukommen lassen? Es gibt eine Spannung zwischen der Sprachhandlung der Buh­rufer, die Staatsministerin zur un­erwünschten Person zu erklären, und der Deutung des Zentralrats, hier habe Frust über Fehlentwicklungen im Kulturbetrieb ein Ventil gesucht.

          Vier Minuten nach Beginn des Buh-Orkans ging Claudia Roth auf die Störer ein. In ihrem unverwüstlichen Optimismus sagte sie: „Das ist Demokratie und ich nehme diese Kritik an, weil wir eine starke und eine bunte und eine mutige Demokratie sind.“ Sie stellte sich weder taub noch dumm, sie weiß, warum sie Kritik auf sich zieht, auch wenn ihre Kritiker an diesem Tag davon absahen, ihr ein einziges Argument entgegenzuhalten.

          In der Mitteilung gegenüber dem „Tagesspiegel“ heißt es weiter, der Zentralrat habe „auf diese Missstände immer wieder hingewiesen“. Es müsse sich „jetzt erkennbar etwas ändern, damit jede Form von Antisemitismus aus dem deutschen Kulturbetrieb nachhaltig verbannt wird“. Dass Claudia Roth ihr Votum zur BDS-Resolution korrigiert, wird man von ihr nicht verlangen können. Was soll sie dann tun, um der vom Zentralrat formulierten Erwartung zu entsprechen?

          Patrick Bahners
          Feuilletonkorrespondent in Köln und zuständig für „Geisteswissenschaften“.

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