Bürgergespräche : Angela Merkel als Kummerkastentante
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Ein Selfie mit der Kanzlerin: Die Aura der Bürgernähe Bild: dpa
Die Bundesregierung will die Bürger in ein Gespräch über „gutes Leben“ verwickeln. Ein wichtiger Austausch zwischen Politik und Bevölkerung. Und: Ein netter Versuch, die Politik nach und nach abzuschaffen.
Wenn die Politik philosophisch wird, ist Argwohn am Platze. Die naheliegende Befürchtung lautet: Hier soll sich rausgeredet werden. Hier soll, genauer gesagt, Tun durch Reden ersetzt oder dieses Tun auch nur auf die lange Bank geschoben werden. Weil philosophisches Reden naturgemäß ein handlungsentlastetes Ergründen ohne Deadline ist, muss es für Politiker eine ungeheure Verlockung darstellen, philosophisch zu werden. Wie könnte man sich eleganter vom Zwang der Eins-dreißig-Statements befreien? Wie ließe sich souveräner dem Fristenkorsett entkommen? Wie könnte man sich von teuren Wahlversprechen aufgeklärter verabschieden, als wenn es gelingt, sie noch einmal in die diskursive Schleife zu schicken?
Die Regierung Merkel hat es tatsächlich geschafft, das auf der Klausurtagung in Meseberg Anfang dieses Jahres beschlossene Projekt „Gutes Leben - Lebensqualität in Deutschland“ auf die Reihe zu bekommen. Gutes Leben: Was hat dieses klassische aristotelische Label in der instrumentellen Sprache der Politik zu suchen? (Beim Stichwort Lebensqualität sieht es anders aus: Die hat Willy Brandt schon eingebürgert.) Zunächst: Die Philosophie kann sich an dieser Stelle nicht beklagen, dass sie politisch faktisch enteignet wird. Denn die Philosophie hat ihre angestammte Frage nach dem guten Leben systematisch in die Soziologie ausgelagert. Und dort herrscht bei diesem Thema naturgemäß eine normative Überforderung. (Soziologen wie der Entschleunigungs-Guru Hartmut Rosa kapern das gute Leben und trivialisieren es mit Thesen wie: Gut lebt, wer Resonanz erfährt.)
Dafür ist der Bürger selbst verantwortlich
Die Kanzlerin will bei ihrem regierungsamtlichen Gutes-Leben-Projekt erfahren, was die Leute, wie es programmatisch (und verräterisch) heißt, jenseits von Brot und Arbeit, Rente und Mindestlohn wollen. Spricht sich hier unter dem Deckmantel der Bürgerbeteiligung eine Entökonomisierung und Entpolitisierung aus? Nach dem Motto: Am liebsten reden wir über Werte. Die kosten nichts.
Die Frage ist freilich: Haben wir wirklich Redebedarf im folgenlosen Raum des zwanglosen Gesprächs? Die Wähler haben doch längst gesprochen! Sie haben, etwa beim vorrangig erwarteten Thema der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, an der Wahlurne nicht nur für mehr, sondern auch für bessere Kitas plädiert; für eine Flexibilisierung der Arbeitszeiten; für eine kinderfreundliche Steuerentlastung nach dem Modell des Familiensplittings statt des dysfunktionalen Ehegattensplittings. Sollen solche harten politischen Forderungen (man könnte andere Beispiele in sämtlichen Politikbereichen finden) nun künftig allesamt in die private Sphäre des guten Lebens abgeschoben, in die Eigenverantwortung des Bürgers entlassen und damit vom öffentlichen Umsetzungsdruck entlastet werden? Will man die Aufgaben des Gemeinwesens beschweigen, indem man von guter Arbeit, guter Müllentsorgung, guter Sicherheit, guten Kindern, guter Medizin und guter Altenpflege spricht? Dieser unpolitische gute Geist könnte der Politik so passen!
Bürgergespräche als Wunschkonzert?
An diesem Mittwoch geht’s los. Spitzenvertreter von Arbeitgebern und Gewerkschaften, von Sozialverbänden und Umweltinitiativen werden im Kanzleramt ihre Aufwartung machen. Vermutlich wird in dieser ökonomisch aufgeklärten Runde erst mal über den Zulassungs-Code der Bürgergespräche beraten, welche man - mehr als hundert an der Zahl, mit gelegentlicher Beteiligung der Kanzlerin - im kommenden Jahr führen will. Um im gemeinsamen Bürgerboot dann gleich in Richtung Bundestagswahl einzuschiffen.
Der Code würde in Form einer sogenannten Indikatorenregelung festlegen, was an gutem Leben machbar ist und was nicht. Denn so willkommen es fürs Kanzleramt ist, dass die Bürger sich ihre Wünsche von der Seele reden und damit die Politik in die Aura der Bürgernähe tauchen, so unvermeidlich steht fest, dass die Wirtschaft ein Machtwörtchen mitzureden hat. Frau Merkel meint sogar: je früher, desto besser! Das Leben ist schließlich nicht das Wunschkonzert, das die Bürger in den Bürgergesprächen anstimmen werden. Die Mittel sind begrenzt. Und wofür mehr und wofür weniger Mittel ausgegeben werden, wird der Bundesfinanzminister am Ende gewiss nicht irgendwelchen frech gewordenen Exegeten des guten Lebens überlassen wollen. Tempolimit? Elektroautos? Gute Bürger, hört euch die Gegenargumente der Autoindustrie doch erst einmal an! Danach wird es immer noch gut gewesen sein, dass wir drüber gesprochen haben.