Britische Wahlen : Wahrheit ist Mangelware
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Hat für einige nichts als Ärger im Gepäck: Englands Permierminister Boris Johnson Bild: Polaris/laif
In Großbritannien hat die Wahl zwischen einem Faktenverdreher und einem Eiferer alte Gewissheiten hinweggefegt. Eine Reise in den wirtschaftlich abgehängten Nordosten Englands.
Zu den Eigentümlichkeiten dieses britischen Wahlkampfes zählt, dass er landauf, landab im Straßenbild kaum sichtbar ist. Statt Häuser, Anschlagtafeln und Laternen mit Schildern zu bepflastern, die sich in der polarisierten Stimmung zur Verunstaltung anbieten, versuchen Politiker und Interessengruppen, die Wähler über die Medien und die sozialen Netzwerke zu mobilisieren. Im Endspurt wirbt Boris Johnson mit einer Parodie jener Szene aus der romantischen Filmkomödie „Tatsächlich Liebe“ um Stimmen, in der ein Verehrer an der Türschwelle erscheint und seinem Schwarm durch stumme handgeschriebene Botschaften auf Pappschildern seine Liebe erklärt.
In dem drei Minuten langen Werbefilm klingelt der Premierminister an der Tür einer Wählerin und legt ihr anhand von Schautafeln dar, wie eng es stehe: „Der andere Kerl könnte gewinnen.“ Die anderen Schilder teilen mit, dass sie die Wahl zwischen einer handlungsfähigen Mehrheit und einem weiteren festgefahrenen Parlament, das über den Brexit streite, „bis ich so aussehe“. In „Tatsächlich Liebe“ hält der Verehrer das Bild eines Knochenmannes hoch. Diesen ersetzt Boris Johnson mit einem kuscheligen Bobtail, bevor er der Dame mitteilt, dass ihre Stimme entscheidend sei. Mit einem „Frohe Weihnachten“ und dem „Daumen Hoch“-Zeichen verabschiedet er sich und murmelt konspirativ in die Kamera: „Genug, genug, lasst uns dies hinter uns bringen“, eine Variante der Kernbotschaft der Konservativen: „Get Brexit done“.
Noch 26 von 29 Sitzen ergattert
Rasch wurde darauf hingewiesen, dass es wohl in Hinblick auf Johnsons Privatleben etwas unvorsichtig sei, einen Filmausschnitt zu wählen, in dem ein Mann versuche, seinem besten Freund die Frau auszuspannen. Bezeichnend ist freilich auch, dass die Tafel fehlt, auf der im Film der Verehrer sagt, dass man an Weihnachten die Wahrheit sage. Wahrheit ist in diesem Wahlkampf Mangelware gewesen, ob es um uneinhaltbare Versprechen über öffentliche Mehrausgaben geht, bei denen sich Zahlenjongleure im Finanzministerium bereits jetzt die Haare raufen, oder um dreiste Lügen. Das Publikum lacht, wenn Johnson im Fernsehstudio von Wahrheit spricht oder Jeremy Corbyn behauptet, seine Einstellung zum EU-Austritt sei klar. Wähler treibt eher das negative Gefühl, für den Parteiführer zu stimmen, gegen den sie die geringste Abneigung haben, für die am wenigsten unbehagliche Option zwischen einem lügenden Clown und einem Marxisten, zwischen einem Zyniker oder einem Eiferer.
In Bishop Auckland, einem der Wahlkreise der sogenannten „roten Mauer“ von postindustriellen Labour-Sitzen in Nord- und Mittelengland, nach denen die Konservativen trachten, ist sich die Männerrunde in der Kneipe auf der von leeren oder zugenagelten Geschäften umgebenen Hauptstraße einig, es sei egal, wem man die Macht gebe, „sie lügen alle“. Die Kleinstadt des Nordostens liegt im traditionellen Herzland von Labour, wo Söhne so zu wählen pflegten wie ihre Väter, ihre Großväter und ihre Urgroßväter, die in den inzwischen geschlossenen Gruben arbeiteten. In dieser wirtschaftlich deprimierten Region konnte die Partei 2017 trotz schrumpfender Mehrheit noch 26 von 29 Sitzen ergattern. Durch den Brexit sind die alten Stammesloyalitäten ins Wanken geraten. So wie Margaret Thatcher um Stimmen warb, indem sie Arbeitern ermöglichte, Hausbesitzer und Aktionäre privatisierter Unternehmen zu werden, so wie Tony Blair 1997 um den sogenannten „Mondeo Man“ buhlte, den Hausbesitzer und Ford-Fahrer des unteren Mittelstands, und so wie die Tories 2015 den „White Van Man“ ins Visier nahmen, den klassischen Handwerker mit Kleintransporter, haben es die Konservativen diesmal auf den „Workington Man“ abgesehen, den Brexit befürwortenden Labour-Wähler aus früheren Industriestädten wie Workington an der nordenglischen Westküste, der empfänglich ist für das Argument, dass die Remain-„Elite“ sich gegen die demokratische Entscheidung der Mehrheit stemme, um den EU-Austritt zu verhindern.