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Berliner Symbolpolitik : Stadt der leeren Zeichen

Brennende Autos in Berlin im Jahr 2016 Bild: OSTKREUZ - Agentur der Fotografe

Ob Stadtschlossstreit ums Kreuz, Konflikt um die Volksbühne oder Kiezkämpfe: Sobald etwas Symbolisches ins Spiel kommt, sind in Berlin alle hellwach und stürzen sich mit Feuereifer in die Debatte.

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          Sobald es um Symbole geht, läuft die Hauptstadt zu großer Form auf. Was im Inneren des sogenannten Berliner Schlosses vorgehen soll, interessiert das von der jahrzehntelangen Debatte rechtschaffen ermüdete Publikum schon lange nicht mehr. Dass die in der Humboldt-Box vorgeführten Modellausstellungen in ihrer Volkshochschulhaftigkeit wenig mit dem Dialog der Kulturen zu tun haben, den der Bundestag für diesen Ort gefordert hat, kümmert niemand.

          Mark Siemons
          Feuilletonkorrespondent in Berlin.

          Und seitdem eine Figur von überregionalem Ruhm (Neil MacGregor) als Mit-Intendant gewonnen wurde, scheint der Öffentlichkeit vollends egal zu sein, ob die offizielle Rechtfertigung dafür, das preußische Stadtschloss wiederaufzubauen, mit irgendeinem Inhalt, geschweige denn einem intellektuell befriedigenden, gefüllt wird. Die Institutionen gehen ihren Gang.

          Aber kaum, dass nun etwas Symbolisches ins Spiel kommt, sind wieder alle hellwach und stürzen sich mit Feuereifer in die Debatte: Soll auf die rekonstruierte Schlosskuppel so wie auf die ursprüngliche Kuppel nun ein Kreuz oder nicht?

          Kuppel ohne Kreuz? Oder doch mit?

          Die Frage enthält all die Elemente, die ein Streit zurzeit braucht, um als relevant empfunden zu werden: Religion, Kultur, Identität, Neutralität. Würde mit dem Kreuz – wie Vertreter der Grünen, der Linken und der „Stiftung Zukunft Berlin“ meinen – der angestrebte, gleichberechtigte Dialog der Kulturen unter das Zeichen des Christentums gestellt und damit von vornherein unterminiert?

          Oder ist Dialog, wie Kulturstaatsministerin Monika Grütters sagt, nur möglich, „wenn wir uns unserer eigenen Wurzeln bewusst sind und sie auch zeigen“? Oder gehört das Kreuz, worauf sich die Gründungsintendanten zurückziehen, in die gleiche Kategorie wie die preußischen Adler an den Fassaden, als notwendige Teile „einer historischen Rekonstruktion, die somit ihrer Funktion enthoben sind“?

          Die Frage ist: Was heißt hier „somit“? Gehört es zum Schicksal der Geschichte und ihrer Aneignung, dass deren Elemente ihre ursprüngliche Funktion unterwegs verlieren?

          Oder anders formuliert: Was bedeutet es, wenn ein symbolisches Accessoire weit mehr Interesse erweckt als die Sache selbst, um derentwillen es doch angeblich diskutiert wird? Die Zahl der Kommentare in den Foren des Internets zeigt, wie niedrig die Schwelle ist, in dieser Angelegenheit eine kräftige Überzeugung zu haben.

          Das ist umso erstaunlicher, als es den meisten Debattenteilnehmern beim Kreuz noch nicht einmal um das christliche Zeichen geht, sondern um ein daraus abstrahiertes Zeichen für „eigene Kultur“, wie sie gerade besteht – um ein vollständig affirmatives Zeichen also. Während das christliche Symbol doch seine Kraft daraus bezog, dass es das Bestehende auf den Kopf stellte und das Zeichen der Schande umkehrte.

          Die Sache wird noch eigenartiger dadurch, dass schon das rekonstruierte Schloss selbst ein leeres Zeichen ist, das sich nach der Absicht seiner Propagandisten mit jeder Funktion und Bedeutung verbinden kann, die sein Zustandekommen ermöglicht.

          Absurde Konstellationen

          Diese Konstellation verschafft der Kreuz-Debatte ihre zugespitzte Absurdität. Warum nimmt man eine Symboldebatte so wichtig, bei der weder das Symbol selbst noch die Bedeutung des Gebäudes, auf dem es plaziert werden soll, beim Wort genommen werden sollen? Warum gilt das Zeichen als wichtiger als der Inhalt?

          Das Kreuz mit dem Kreuz - wobei dieses auf dem Berliner Dom ja niemand beanstandet hat.
          Das Kreuz mit dem Kreuz - wobei dieses auf dem Berliner Dom ja niemand beanstandet hat. : Bild: Dorling Kindersley: Roger d'Oliv

          Bei dem anderen Debatten-Dauerbrenner der Berliner Kultur verhält es sich ähnlich. Bei dem langanhaltenden Streit um die Zukunft der Volksbühne spielte die Frage, was eigentlich dieses Theater von Castorf, Pollesch, Marthaler und Schlingensief ästhetisch und politisch unterscheidbar macht, eine überraschend geringe Rolle.

          Stattdessen wurden symbolische Fragen diskutiert: Wie lassen sich der bisherige Intendant Castorf auf der einen Seite und der künftige Intendant Dercon auf der anderen in einem Koordinatensystem aus Haltungs- und Lebensstil-Assoziationen unterbringen?

          Die Distinktionsmaschine, die den Worten und Gesten der Protagonisten immer neue Unterscheidungen zwischen linken, linksliberalen, neoliberalen, identitären, kosmopolitischen, provinziellen, proletarischen, elitären, östlichen und westlichen Haltungen ablauscht, lief auf Hochtouren. Und sorgte für ein kaum auszuschöpfendes Reservoir an Identifikationsangeboten und Partythemen.

          Als Kulturereignis des Jahres wurde in Berlin folgerichtig nicht eine Premiere annonciert, sondern die Pressekonferenz, auf der Chris Dercon seine Pläne vorstellte. Man könnte sich ein Theater der Zukunft vorstellen, das auf Premieren ganz verzichtet und nur noch Pressekonferenzen abhält.

          Was in beiden Fällen hervorsticht, ist, dass sich die Zeichen selbständig gemacht haben: Sie funktionieren auf einer eigenen Ebene, weitgehend unabhängig von dem, was innerhalb der durch sie etikettierten oder dekorierten Institutionen stattfindet.

          Man könnte sagen, das gelte ab einem gewissen Abstraktionsgrad für alle Zeichen – doch zugleich scheint es das Merkmal einer speziellen Art von Bedeutungsverschleiß zu sein, der sich in den letzten Jahren in Berlin vollzogen hat.

          Die Zeichen werden selbständig

          Einen „fast religiösen Glauben an die Möglichkeiten der eigenen Neuerfindung“ konnte noch vor zehn Jahren der New Yorker Publizist Gideon Lewis-Kraus als Kern der Schubkraft identifizieren, die ihn und andere junge Leute aus der westlichen Hemisphäre nach Berlin gezogen hatte.

          Die Kombination aus Freizügigkeit, niedrigen Mieten und noch nicht bebauten Stadtbrachen versetzte, zusammen mit den allgegenwärtigen Relikten der welthistorischen Umwälzungen, das Selbstgefühl in eine wohlige Schwerelosigkeit. In den Jahrzehnten zuvor war es den Deutschen aus Ost und West ähnlich gegangen, die es aus ihren baulich und semantisch überdeterminierten Heimatorten nach Berlin ins Offene gezogen hatte.

          „You’ve probably gone to Berlin in part because of its reputation for world-historical fun“, schrieb Lewis-Kraus. Die Symbole der Vergangenheit fungierten schon damals losgelöst von ihren ursprünglichen Absichten und Schrecken, bloß als Zitat, als Kontrastmittel – jedoch als eines, das dem Ausprobieren immer neuer freier Räume, dessen Hintergrund es abgab, eine umso größere Wirklichkeit verlieh.

          Seitdem sich die Räume jetzt aber immer mehr schließen, sind auch die Zeichen dieser Art Realitätssteigerung nur noch ein Zitat, ein Symbol zweiter Ordnung.

          Warenweltsymbol - der Mercedesstern auf dem Berliner Europa-Center.
          Warenweltsymbol - der Mercedesstern auf dem Berliner Europa-Center. : Bild: ddp Images

          Die Veränderung lässt sich der speziellen Semantik ablesen, die in Berlin jedes Wohnquartier besetzt und auflädt. Die Ausdifferenzierung der Lebensstile findet in dieser Stadt ein ebenso unheimlich wie komisch genaues Abbild in der Ausdifferenzierung der Kieze. Jeder einzelne Straßenzug in den innerstädtischen Bezirken steht für etwas: für eine Haltung, einen Geschmack, eine Generationserfahrung, ein soziales Gefühl, eine politische Einstellung.

          Platz für jedes Klischee

          Da in Berlin das Milieu, das für Kodierungen dieser Art empfänglich ist, sehr groß ist, bleiben die Images nicht folgenlos, sondern verstärken sich per Rückkopplung. Jeder findet hier Platz in dem von ihm bevorzugten Klischee, das auf diese Weise wenigstens nachträglich Wirklichkeit wird:

          Die jungen Familien mit grünen Sympathien am Kollwitzplatz zogen weitere junge Familien mit grünen Sympathien an, ebenso wie die eher anarchistisch orientierten Köpfe in der Rigaer Straße in Friedrichshain mit deren Hausbesetzertradition Ihresgleichen nach sich zogen oder die bärtigen jungen Männer mit Englischkenntnissen, die etwas mit Internet machen wollten, den Rosenthaler Platz in Mitte bevölkerten, wo ja die sogenannte Start-up-Szene ihr Zentrum haben soll.

          So wurden die Kodierungen zu einem Motor der Homogenisierung. Und überall dort, wo die Nachfrage das Angebot übersteigt, auch der Gentrifizierung, der Verdrängung durch die finanziell Stärkeren.

          Die realen Freiheiten schwanden, und was blieb, waren deren von Alteingesessenen, Zuzüglern und Touristen gleichermaßen bestaunten Sinnbilder. Die Gentrifizierung treibt nicht nur die Mietpreise in die Höhe und schließt die Baulücken, sie sorgt auch dafür, dass die letzten Verbindungen, die die Symbole mit der gegenwärtigen Wirklichkeit haben, gekappt werden.

          Jenseits der Wirklichkeit

          Im aufgeklärt-aufgeschlossenen Bürgertum zum Beispiel, das nach Prenzlauer Berg gezogen ist, stehen die kulturellen Zeichen von Arbeitern, trinkfreudigen Poeten und Anarchisten selbstverständlich in hohem Ansehen. Aber wenn sich Restbestände dieser Phantasmen einmal in der Gegenwart bemerkbar machen, gibt es Proteste – sei es gegen die Ruhestörung durch späte Lokalbesucher oder gegen Alkoholiker, die Kinderspielplätzen zu nahe kommen.

          Gentrifizierte Gegenden kann man geradezu danach bestimmen, dass die Zahl der Symbolkonsumenten diejenige der Symbolträger so sehr übertrifft, dass die einen sich durch die anderen nicht behelligt zu fühlen brauchen. So taugt die Mischung aus Türken, Arabern und deutschen Arbeitslosen in vielen Teilen Neuköllns als multikulturelles Symbol, das die Gegend für Studenten, Künstler und junge Angestelltenfamilien attraktiv macht.

          In der Weddinger Badstraße dagegen taugt die Mischung nicht für ein solches Zeichen: Dort gibt es viel zu viele reale Bandenkämpfe, Elend und Drogenhandel – und zu wenige Konsumenten, die das als Symbol erkennen, goutieren und verbrauchen können. Das kann sich natürlich ändern. Die Immobilienpreise sind rund um das Gesundbrunnen-Center schon rasant gestiegen – was zeigt, dass die Investoren dort ein künftiges Symbolpotential erkannt haben.

          Könnte es also sein, dass die symbolische Ausstaffierung der Hauptstadt heute als Kompensation für die verlorenen Freiheiten und Bedeutungen fungiert, als anregende Erinnerung daran, dass es früher einmal um etwas ging, ohne davon allzu sehr belästigt zu werden?

          Das Codewort für diese Erinnerung hieße dann „Kultur“. Und die leidenschaftlichen Symboldebatten, ob sie nun die Volksbühne, das Humboldt-Forum oder die „Leitkultur“ betreffen, wären dann vor allem Ersatzhandlungen, um sich auf die Unterscheidungen der dadurch verdeckten realen Konflikte nicht einlassen zu müssen.

          Hang zur Ersatzhandlung

          So kämpfen auch viele Gentrifizierungsgegner lieber gegen Symbole der Gentrifizierung, als sich mit deren Ursachen auseinanderzusetzen. Im Neuköllner Schiller-Kiez wurden Lieferwagen vor einem Imbiss abgefackelt, der vegane Burger anbietet.

          Die Wracks blieben wochenlang dort stehen, Touristen machten Selfies davor, als einem Symbol für das widerspenstige Berlin offenbar, das unterdessen mit der multikulturellen Symbolik konkurrierte: Der Inhaber des Imbisses ist ein türkischstämmiger Berliner. Könnte es sein, dass die Rhetorik derer, denen jedes Symbol recht kommt, um die nationale „Identität“ zu verteidigen, auf ganz ähnliche Weise irreal ist?

          Der Kulturwissenschaftler Andreas Reckwitz stellte einmal die „Hyperkultur“ der aufgeklärten Kulturverbraucher dem „Kulturessentialismus“ derer entgegen, die an Kultur als Medium der Abgrenzung und Identitätsbildung interessiert sind.

          Doch womöglich schließen sich die beiden Idealtypen gar nicht aus: Wer es sich in symbolisch besetzten Kulissen gemütlich gemacht hat, kann deren Zeichen auch nach Belieben als Instrument der Ein- und Ausgrenzung nutzen.

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