Islamverständnis : Belgische Muslime greifen den Dschihadismus an
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In der großen Moschee in Brüssel vor den ersten Freitagsgebeten nach den Anschlägen Bild: AFP
Der Dschihad als Komödie, Pilotmoscheen mit staatlicher Unterstützung, ein Aufruf von Gläubigen zur stärkeren Verpflichtung auf die Werte ihres Landes: Belgiens Muslime wenden sich immer stärker gegen den Dschihadismus.
Im Grunde, sagt Ismaël Saidi, habe doch halb Belgien vor dem Fenster gesessen und auf das Gewitter gewartet. „Und jetzt ist es eben gekommen.“ Der Schock ist groß, aber Überraschung darüber, dass der islamistische Terrorismus Brüssel erreicht hat, lässt sich aus der Stimme des belgischen Komikers nicht heraushören, dafür kennt er die Milieus, aus denen die Attentäter stammen, viel zu genau. Saidi ist in Schaerbeek aufgewachsen, einem armen Brüsseler Viertel mit schlechtem Ruf. Seine Eltern waren in den sechziger Jahren aus Marokko eingewandert. Saidi ist erst Polizist geworden, hat Theater gespielt, Filme gedreht und im Herbst 2014 ein Stück geschrieben, das vom Kultusministerium Wallonie-Bruxelles umgehend mit dem Prädikat „von öffentlichem Nutzen“ versehen wurde. Was bedeutete, dass das Ministerium sämtlichen Schulklassen des Landes den kostenlosen Eintritt ermöglichte und das Stück als Präventionskulturleistung fortan in aller Munde war. Seit mehr als einem Jahr zieht Saidi mit seiner Truppe durch Belgien und Frankreich, mehr als hundert Vorführungen hat er gegeben. Nachdem das Stück ins Flämische übersetzt worden ist, tourt eine zweite Truppe jetzt durch Flandern und Holland. Eine englische Übersetzung wird gerade vorbereitet.
„Djihad“ ist eine Komödie, die von drei Jungs auf dem Weg nach Syrien erzählt. Dort hoffen sie, von Sorgen erlöst zu werden, die kaum spiritueller, dafür allzu irdischer Natur sind: Es geht, vor allem, um Mädchen. Auf humoristische, wohl auch ein bisschen hemdsärmelige Art wird hier also darauf hingewiesen, wovon in anderen Worten auch Dschihadismusforscher immer wieder reden - dass die Motivationen für Radikalisierung häufiger persönlicher und seltener politischer Natur sind. Was aber ist daran lustig? Die Naivität, mit der die Jungs geschlagen sind, ihr Rassismus, ihr aus Halbwissen zusammengestöpseltes Weltbild. „Man muss den Dingen ein wenig die Schwere nehmen“, sagt Ismaël Saidi über sein Stück. „Das hat es uns ermöglicht, über Probleme zu sprechen, über die hier bisher meist geschwiegen wurde.“ - „hier“ heißt: in der muslimischen Gemeinde, der der neununddreißig Jahre alte Saidi selbst angehört, die er aber ganz bewusst nicht mit Kritik verschont.
Kostenlose salafistische Lektüre für die Gläubigen
Das hat er auch nicht getan, als er im vergangenen Frühjahr gemeinsam mit drei Gleichgesinnten einen Aufruf veröffentlichte, in dem er zehn Vorschläge unterbreitete, mit denen der in Belgien praktizierte Islam stärker den belgischen Werten verpflichtet werden soll. Die Liste liest sich aus der Feder von gläubigen Muslimen wie der Aufruf zu einer kleinen Revolution: Innerhalb der nächsten fünf Jahre sollen sämtliche Moscheen auf der Basis eines Kataloges, der ihre Rechte und Pflichten festschreibt, eine Anerkennung vom Staat benötigen, Imame ihre Freitagspredigten in der Landessprache halten und einen akademischen Abschluss besitzen. Dafür hilft der Staat mit finanzieller Unterstützung bei der Instandsetzung der oft heruntergekommenen Gebäude und der Gründung von „Pilot-Moscheen“ in allen Regionen, die als „Zentren eines pazifistischen, inklusiven, egalitären und ökumenischen Islams“ eine Art Vorbildfunktion übernehmen sollen - auch, indem sie zu gleichen Teilen Frauen und Männern den Zugang zu den Gebetsräumen und den Verwaltungsgremien eröffnen. All dies müsse „vor dem nächsten dschihadistischen Attentat“ in Angriff genommen werden, das „leider unvermeidlich“ sei.
Einer der Unterzeichner ist Michael Privot, ein Islamwissenschaftler, der nicht verhehlt, dass er eine Weile selbst den belgischen Muslimbrüdern nahestand. „Die belgischen Moscheen sind in einem katastrophalen Zustand“, sagt er. Das intellektuelle Niveau der Predigten sei oft erbärmlich, was er durch die Verpflichtung auf das Französische oder Flämische zu ändern hofft. Auch herrsche eine große Intransparenz vor allem über die Finanzierung vieler Moscheen, da viele schon in den sechziger Jahren als Vereine gegründet worden seien, für die der in Fragen der Religionsausübung zur Neutralität verpflichtete belgische Staat sich nicht zuständig wähnte. Mehr noch: Belgien habe sehenden Auges zugelassen, so Privot, dass Saudi-Arabien seit den siebziger Jahren seinen Einfluss vor allem auf die große „Mosquée du Cinquantenaire“ in Brüssel ausweiten konnte.
Ähnlich wie in manchen französischen Moscheen wird dort kostenlose salafistische Lektüre unter den Gläubigen verteilt. Saudi-Arabien hat auch Stipendien für Studenten finanziert, die in Medina ausgebildet wurden. Der französische Historiker Pierre Conesa, der in Frankreich gerade einen „Guide du petit djihadiste“ veröffentlicht hat, sprach in diesem Zusammenhang erst vor kurzem von etwa 2 bis 3 Milliarden Dollar, die Saudi-Arabien jährlich für „religiöse Diplomatie“ ausgebe (ohne allerdings zu sagen, wie er auf diese Zahl gekommen ist). Michael Privot bezeichnet die Propagandastrategie Saudi-Arabiens als eine „Kriegsmaschine“, der man finanziell und kulturell etwas entgegensetzen müsse. „Es ist viel Terrain verlorengegangen in den vergangenen Jahrzehnten“, sagt er. Ein Grund, mit der Rückeroberung zu beginnen.