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Freihandelsabkommen mit Amerika : Europas Angst

Google Earth liefert nicht nur Bilder der Welt, es ist dabei, die Welt zu ersetzen Bild: Google Earth

Die bösen Amerikaner wollen die europäische Kultur zerstören, und das transatlantische Freihandelsabkommen ist ihre Waffe. So sieht es jedenfalls der deutsche Kulturbetrieb. Kann es aber sein, dass das ein großer Blödsinn ist?

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          Wenn man in diesen Tagen hineinhört in den deutschen Kulturbetrieb, dann schallt es immer fürchterlicher heraus: Überall, wo mehr als zwei Kulturfunktionäre die Köpfe zusammenstecken, überall, wo die neue Kulturstaatssekretärin Monika Grütters ihren Sinnstiftungsauftrag zu erfüllen versucht, auf den Podien der Hauptstadt, in den Gesprächssendungen des Radios und den Diskussionsrunden des Fernsehens, überall hört man jetzt, dass die bösen Amerikaner, wenn wir Europäer uns nicht entschlossen wehren, unsere schöne europäische Kultur kaputtmachen werden.

          Claudius Seidl
          Redakteur im Feuilleton.

          Das transatlantische Freihandelsabkommen, über das zurzeit zwischen Europäern und Amerikanern verhandelt wird, soll Handelshemmnisse abbauen - und all die Euro, welche wir Europäer in unseren Kulturbetrieb stecken, weil unsere Musik, unsere Theater, Museen, der Film und auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk uns das anscheinend wert sind, bedeuten genau das: Sie sind Handelshemmnisse. Kultur, sagt sich der deutsche Kulturbetrieb, sei in den Vereinigten Staaten nur das, was sich kommerziell behaupten könne - und so läuft die europäische Empörung immer wieder auf zwei Merksätze hinaus. Der erste besagt, dass wir unsere kulturellen Standards gegen den Angriff der Amerikaner behaupten müssen. Den zweiten spricht besonders überzeugend Monika Grütters aus: „Kultur ist keine Handelsware.“

          Das Staatstheater, ein Handelshemmnis?

          Mal abgesehen davon, dass wir Shakespeares Dramen einer Zeit verdanken, in welcher das Theater eine sehr begehrte Handelsware war; abgesehen auch davon, dass es den meisten Künsten ganz gut tat, dass sie sich im bürgerlichen Zeitalter in Handelswaren verwandelten und die Zeiten zu Ende gingen, da ein Fürst sich einen Künstler leistete und vielleicht noch ein Hoftheater, zur eigenen Zerstreuung und zum Amüsement der Standesgenossen: Es bleibt die Frage, ob die Angst der Europäer berechtigt sei.

          Eine Prognose ist da einigermaßen sicher: Dass die Berliner Philharmoniker entlassen werden, dass der Louvre und die Alte Pinakothek schließen müssen und dass da, wo heute die Münchner Kammerspiele ihr Theater haben, morgen die Firma Brooks Brothers eine Filiale eröffnet - das ist schon deshalb nicht zu erwarten, weil sich auch die Amerikaner gern solche luxuriösen Sachen wie Symphonieorchester und Kunstmuseen leisten (auch wenn dort die Spenden reicher Leute eine größere und Steuergelder eine kleinere Rolle spielen). Für das, was unsere Bühnen so spielen, interessiert sich allerdings kaum ein Amerikaner, aber welcher Handel durch die Existenz unserer Staatstheater behindert würde, kann wohl auch keiner sagen.

          Wir brauchen Verbündete, nicht Gegner

          Ernster wird es auf jenem Feld, welches in der Sprache der Verhandlungsführer „audiovisuelle Medien“ heißt, bei Film und Fernsehen vor allem, womit man einerseits eine Menge Geld verdienen kann. Und wo doch Staat und Gesellschaft riesige Summen an Subventionen und Gebühren investieren, weil ohne diese anscheinend die europäischen Standards nicht zu erreichen sind.

          Und ganz bange wird es jedem, der sich bewusst macht, dass unsere Buchpreisbindung ein ganz handfestes Handelshemmnis ist, welches die Firma Amazon, die ja fast schon ein Monopol auf den Internethandel mit Büchern hat, allzu gerne beseitigen würde.

          Allerdings hat Amazon das Monopol schon jetzt, unter den gegebenen Bedingungen - und weil es anscheinend das Ziel des Konzerns ist, auch das Monopol für E-Books zu erobern und das E-Book-Geschäft der Verlage zu zerstören, haben in diesen Tagen amerikanische und europäische Verlage gleich großen Ärger mit Amazon. Wer also ein Interesse daran hat, die Macht von Amazon zu begrenzen und den totalitären Anspruch zurückzuweisen, sollte in den Vereinigten Staaten nach Verbündeten suchen, nicht nach Gegnern.

          Die besten Argumente

          Aber wenn es um die Kultur geht, ist kein Status quo zu schlecht, als dass er nicht, sobald Veränderung droht, vom gesamten Betrieb unerschrocken verteidigt würde. Dem deutschen Film oder dem, was unter der Herrschaft der Fördergremien und der Aufsicht der Fernsehredakteure daraus geworden ist, kann es eigentlich nicht mehr schlechter gehen. „Brav, banal, begütigend, verbeamtet, frigide, käuflich, museal und selber schuld“, nannte, in einer Intervention gegen das Elend des deutschen Filmpreises, der Regisseur Klaus Lemke das deutsche Obrigkeitskino. Kaum drohen die Amerikaner, da redet die Branche sich ein, dass es hier irgendetwas zu schützen gebe.

          Und das öffentlich-rechtliche System, das gerade dabei ist, dem besten aller Klassikradios, Bayern 4, die Ultrakurzwellenfrequenz zu entziehen, hat natürlich die besten Argumente gegen den amerikanischen Rundfunkkommerz: Fernsehzuschauer, fürchtet euch, es drohen euch die Zustände, die „Mad Men“ und „Orphan Black“ hervorgebracht haben!

          Die europäische Kultur ist abgelöst

          Dem einen oder anderen wird aufgefallen sein, dass hier nicht von der bildenden Kunst, nicht von der Architektur und von der Literatur nur am Rande die Rede war. Was daran liegt, dass, nur zum Beispiel, die Werke Gerhard Richters im Museum of Modern Art hängen, die Wolkenkratzer von Ole Scheeren in den Riesenstädten Asiens stehen und Daniel Kehlmanns Bücher auf der ganzen Welt gelesen werden, ganz ohne dass es dafür die Fürsorge des deutschen Subventionsbetriebs gebraucht hätte. Was diesen Künstlern geholfen hat, das sind vermutlich nicht jene europäischen Standards, von denen jetzt dauernd die Rede ist, ohne dass sie jemand genauer beschreiben könnte. Es sind eher die amerikanischen Standards zur Herstellung von Relevanz und Universalität - jene Standards, die auf der Erfahrung beruhen, dass einer, der so schreibt, filmt, baut oder malt, dass die Menschen in Chinatown oder Little Italy sich für ihn interessieren, auch in Italien oder China ein größeres Publikum finden wird als der, der seine Kunst vor allem an die Bürokraten in den Fördergremien, die Funktionäre in den Subventionsbehörden und die Langweiler und Neidhammel in den diversen Jurys adressiert.

          Dem einen oder anderen wird vielleicht auch aufgefallen sein, dass in der Diskussion auch von Europa nur scheinbar die Rede ist. Man spricht von europäischen Standards, meint aber den deutschen Kulturbetrieb - was letztlich nur verschleiert, dass jene europäische Kultur, die allseits beschworen wird, eher ein Phänomen der Vergangenheit als eines der Gegenwart ist. Ja, Händel in London, „Don Giovanni“ in Prag, Ibsen in München, Kandinsky in Murnau und Heine in Paris, das ist das Europa, auf das wir uns gerne berufen. Dass es dieses Europa nicht mehr gibt, offenbart sich, nur zum Beispiel, im Erfolg des französischen Ökonomen Thomas Piketty. Vor mehr als einem Jahr erschien dessen Buch „Le Capital au XXIe siècle“ in Frankreich. Aber erst die englische Übersetzung, erst die hymnischen Rezensionen der Amerikaner verschafften „Capital in the Twenty-First Century“ auch in Deutschland die Aufmerksamkeit des Publikums. An die Stelle der europäischen Kultur ist die vom Westen und der englischen Sprache dominierte Weltkultur getreten. Selbst Franzosen und Deutsche, die sich so lange aufeinander bezogen haben, kommunizieren heute miteinander im Medium dieser globalisierten Kultur.

          Wir sollten das nicht zurückweisen

          Deren größte Herausforderung aber, das raffinierteste und zugleich gefährlichste Werk spielt im deutschen Kulturfunktionärsdiskurs aber ohnehin kaum eine Rolle. Der alte Schriftsteller George Steiner, ein durchaus konservativer Mann, weist seit zwanzig Jahren darauf hin, dass einer, der heute ähnliche Erfahrungen machen will, wie man sie im Italien der Renaissance machen konnte, in den Werkstätten von Leonardo da Vinci oder Michelangelo Buonarotti, dass so einer nicht die Ateliers der Künstler, sondern eher die Labors der Forscher besuchen sollte. Die Vizepräsidentin der deutschen Unesco-Kommission dagegen, Verena Metze-Mangold, wird nicht müde zu behaupten, dass unsere Kultur die Schutzräume des Subventionsbetriebs brauche, damit das Neue entstehen könne.

          Das Neue ist allerdings an jenem geistigen Ort entstanden, den wir, vereinfachend, Silicon Valley nennen, es ist mehr als ein Netz und größer als ein Modell, es wäre die irrste Science-Fiction, wenn es nicht längst die Wirklichkeit wäre, es ist jene elektronische Welt, welche längst dabei ist, die sinnlich wahrnehmbare Wirklichkeit zur materiellen Außenhaut des Cyberspace zu machen und unseren Geist zu einem Terrain, welches die Algorithmen genau vermessen haben. Google Earth ist kein Bild der Welt. Es ist die Welt, durch welche, zum Beispiel, bald die selbstgesteuerten Autos fahren werden.

          Es ist eine Welt, die uns Komfort gibt und uns dafür die Mündigkeit nimmt - aber die Erkenntnis, dass dieses System am Ende noch totalitärer sein wird, als es jene Systeme waren, denen wir die Sixtinische Kapelle oder das Schloss von Versailles verdanken: Diese Erkenntnis ist nicht gerade ein Produkt der europäischen Kultur. Was wüssten wir ohne den Amerikaner Edward Snowden, wie unverbindlich wäre unsere Kritik ohne die Handreichungen des gebürtigen Weißrussen und naturalisierten Amerikaners Evgeny Morozov, den der Politikchef der „Zeit“ neulich richtigerweise den „Karl Marx des digitalen Zeitalters“ nannte. Und welcher unserer ständig empörten Schriftsteller hat die Kraft, einen Roman wie Dave Eggers’ „The Circle“ zu schreiben, einen Text, der im altmodischen Medium der Sprache unsere ganze digitale Gegenwart durchleuchtet?

          Wenn das die amerikanischen Standards sind, dann sollten wir sie nicht zurückweisen.

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