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Die Zukunft der Erinnerung : Auschwitz morgen

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Wie bleibt Vergangenheit lebendig, wenn biographische Bezüge fehlen? Jugendliche beim Marsch der Lebenden in Auschwitz-Birkenau Bild: Imago

Wer sich in Deutschland einbürgern lässt, wird auch die Last tragen müssen, Deutscher zu sein. Spätestens in Auschwitz wird er spüren, was das bedeutet.

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          Mit einer Beobachtung möchte ich beginnen, die ich im vergangenen Sommer nach einer Reise durch Osteuropa aufgeschrieben habe. Um Auschwitz zu besuchen, musste ich mich online anmelden und für eine Sprache entscheiden, Englisch, Polnisch, Deutsch und so weiter. Die Prozedur war nicht viel anders als auf einem Flughafen: Die Besucher, die meisten mit Backpacks, kurzen Hosen oder anderen Signalen, auf der Durchreise zu sein, hielten den Barcode hin, um einzuchecken, nahmen einen Aufkleber für ihre Sprache in Empfang und passierten eine Viertelstunde vor Beginn der Führung eine Sicherheitsschleuse. In einer engen Halle verteilten sie sich auf zu wenige Sitzbänke, bis ihre Gruppe aufgerufen wurde. Nachdem ich das Ticket unter einen weiteren Scanner gehalten hatte, stand ich von einem Schritt auf den anderen im ehemaligen Konzentrationslager, vor mir die Baracken, die Wachtürme, die Zäune, die jeder von Fotos, Dokumentationen, Filmen kennt.

          Die Gruppen hatten sich bereits gesammelt und warteten darauf, von ihren Führern abgeholt zu werden. Während die israelischen Jugendlichen – oder bildete ich mir das nur ein? – etwas lauter und selbstbewusster waren, drückten sich die Deutschen – nein, das bildete ich mir nicht nur ein – stumm an die Mauer des Besucherzentrums. Plötzlich wog der Aufkleber schwer, den ich in der Hand hielt, eigentlich doch nur ein kleines Stück Plastikfolie. Er wog schwer. Instinktiv holte ich Luft, bevor ich den Aufkleber an die Brust heftete, auf dem schwarz auf weiß ein einziges Wort stand: deutsch. Das war es, diese Handlung, von da an wie ein Geständnis der Schriftzug auf meiner Brust: deutsch. Ja, ich gehörte dazu, nicht durch die Herkunft, durch blonde Haare, arisches Blut oder so einen Mist, sondern schlicht durch die Sprache, damit die Kultur. Wenn es einen einzigen Moment gibt, an dem ich ohne Wenn und Aber zum Deutschen wurde, dann war es nicht meine Geburt in Deutschland, es war nicht meine Einbürgerung, es war nicht das erste Mal, als ich wählen gegangen bin. Schon gar nicht war es ein Sommermärchen. Es war letzten Sommer, als ich den Aufkleber an die Brust heftete, vor mir die Baracken, hinter mir das Besucherzentrum: deutsch. Ich ging zu meiner Gruppe und wartete ebenfalls stumm auf unsere Führerin. Im Tor, über dem „Arbeit macht frei“ steht, stellten sich nacheinander alle Gruppen zu einem bizarren Foto auf. Nur wir schämten uns.

          Wann endlich wieder ein normales Land?

          Seit sich die Bundesrepublik Deutschland an den Nationalsozialismus, den Angriffskrieg, den Völkermord an den Juden sowie die Vergasung, die Erschießung, das Aushungern und die Deportation weiterer Millionen Menschen erinnert, seitdem wird die Erinnerung auch für schandbar, ungesund oder jedenfalls übertrieben erklärt. Die Dialektik von Gedenkkultur und Gedenkkritik zieht sich in Gestalt wiederkehrender, immer ähnlich verlaufender Debatten durch die Geschichte des immer noch jungen Staates, der seit 1990 allein in der Nachfolge des Deutschen Reichs steht. Sie hat nicht erst mit dem Historikerstreit 1986 eingesetzt und nicht mit der Friedenspreisrede von Martin Walser 1998 aufgehört.

          Schon das Ausführungsgesetz zu Artikel 131 des Grundgesetzes, das sämtlichen Nazibeamten die Wiedereingliederung ermöglichte, wurde 1951 mit der Notwendigkeit eines „Schlussstrichs“ begründet, der Frankfurter NS-Prozess 1963 als „Nestbeschmutzung“ oder „Brunnenvergiftung“ bezeichnet, auch der Kniefall von Willy Brandt 1970 von weiten Teilen der Presse und des Bundestags als „Vaterlandsverrat“ kritisiert, 1979 die Ausstrahlung der Serie „Holocaust“ mit Bombenanschlägen zu verhindern versucht, 1983 die Gnade der späten Geburt gefeiert und anlässlich der Aufführung eines Fassbinder-Stücks 1986 gegenüber Juden das „Ende der Schonfrist“ gefordert. Und wenn der diesjährige Vorstoß, die Vergangenheit ein für alle Mal für bewältigt zu erklären, der Vortrag des thüringischen AfD-Vorsitzenden Björn Höcke in Dresden, keine Kontroverse, sondern eine konsensuale Empörung zur Folge hatte, dann nicht aufgrund seiner Schlüsselsätze, sondern wegen des offen völkischen Zusammenhangs, der Person des Redners und seiner Parteizugehörigkeit. Inhaltlich war mit Höckes „Mahnmal der Schande“ nichts anderes gemeint als mit Walsers „Dauerpräsentation unserer Schande“, so empört diejenigen das zurückweisen werden, die seinerzeit in der Paulskirche stehend applaudierten. Im Kern geht es in allen öffentlichen Auseinandersetzungen über den Umgang mit dem nationalsozialistischen Erbe um die Frage: Wann endlich wird aus Deutschland wieder ein normales Land?

          Bestenfalls um Betroffenheit bemüht

          Die Auseinandersetzung wird vermutlich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten in eher kürzeren Abständen wiederkehren, und sie wird an Schärfe oder vielleicht nicht an Schärfe, sondern folgenreicher noch: an Arglosigkeit gewinnen. Nicht mehr die Ewiggestrigen werden leugnen, sondern ganz normale, sogar weltoffene junge Leute werden nicht mehr verstehen, was Hitler mit ihnen zu tun haben soll. Denn wir stehen vor einer Zäsur, die noch nicht genügend ins öffentliche Bewusstsein gedrungen ist: Sehr bald werden die letzten Überlebenden von Auschwitz gestorben sein. Und nicht nur die Überlebenden verstummen, sondern überhaupt alle Zeitzeugen, Opfer, Verbrecher, Mitläufer, Unbeteiligte, Widerständler. Am Niedergang der Europäischen Union konnten wir bereits verfolgen, was es bedeutet, wenn eine Generation die politische Verantwortung übernimmt, die die Größe und Notwendigkeit der europäischen Einigung nicht mehr selbst biographisch erfahren hat. Und inzwischen sind wir noch einmal eine Generation weiter: Wer heute in Deutschland aufwächst, hat in der Regel nicht einmal mehr Großeltern, die noch erzählen oder sei es auch verschweigen – gerade das Schweigen kann schließlich zum Nachfragen anstiften, wie an einer anderen Generation, den Achtundsechzigern, zu verfolgen war.

          Der Schriftsteller und Orientalist Navid Kermani, 1967 als Sohn iranischer Eltern in Siegen geboren, lebt in Köln. Er ist Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2015 sowie zahlreicher weiterer Auszeichnungen.
          Der Schriftsteller und Orientalist Navid Kermani, 1967 als Sohn iranischer Eltern in Siegen geboren, lebt in Köln. Er ist Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2015 sowie zahlreicher weiterer Auszeichnungen. : Bild: dpa

          Wer künftig aufwächst, wird niemals mehr die Übertragung einer Festrede aus dem Bundestag hören, in der aus eigener Anschauung gesprochen wird, er wird in der politischen Bildung niemandem begegnen, dem die Leiden, die Schuld, aber auch die Kraft zur Versöhnung in die Augen geschrieben, in die Stimme gedrungen oder eben in die Haut tätowiert sind. Er wird im benachbarten Ausland – paradoxe Folge erfolgreicher deutscher Reintegration – kaum mehr als Nazi beschimpft oder veralbert werden, wie es meinen Mitschülern noch geschah. Wohl wird er auf der Klassenfahrt nach Berlin von seinen Lehrern zum Denkmal für die ermordeten Juden Europas geführt, aber er wird in den Gängen Verstecken spielen, auf einer der Stelen sein Butterbrot auspacken und das Selfie nicht vergessen. Im besten Fall wird er sich in Erinnerung an diesen oder jenen Film oder eine besonders engagierte Unterrichtsstunde um etwas Betroffenheit bemühen. Aber eine Begegnung, ein einschneidendes Erlebnis, gar eine Zäsur in der eigenen politischen Sozialisation kann das Denkmal für die ermordeten Juden keinem Jugendlichen bescheren. Hier liegt ein berechtigter oder jedenfalls nachvollziehbarer Grund für das Unbehagen, das an der offiziellen Erinnerungskultur artikuliert wird.

          Eine reale Situation ins Zeichenhafte übertragen

          Das kulturelle Gedächtnis braucht Rituale, Mahnmale, Jahrestage, wiederkehrende Bilder und, ja, auch sprachliche Floskeln, um sich zu bilden, zu bewahren und zu entwickeln. Seiner Natur nach tendiert das zeremonielle Gedenken zur Wiederholung und Formelhaftigkeit. Es ruft durch Zeichen eine Erinnerung wach. Das ist in religiösen Vergegenwärtigungsritualen nicht anders. Wenn jemand nicht mit dem Evangelium aufgewachsen ist, zu wessen Archiv nicht die Weihnachtsgeschichte, die Bergpredigt, die Kreuzigung, die Auferstehung und die Erinnerung an die eigene Kommunion gehören, für den bleibt die Eucharistie ein äußerlicher Vorgang, der allenfalls von einem kuriosen ästhetischen Reiz ist. Wem die Geschichte des Judentums, diese dreitausendjährige, so reiche und zärtliche, aber auch leidvolle und gewalttätige Liebesgeschichte zwischen dem Schöpfergott und seinem Volk, nicht in die individuelle Lebensgeschichte eingewoben ist, an dem wird der Moment vorübergehen, da der Vorbeter die Torarolle in die Höhe hält.

          Es gab die Erwartung, dass der Holocaust für die Bundesrepublik Deutschland so etwas wie ein fundierender Mythos sei, der durch Vergegenwärtigungsriten und -orte über die beteiligten Generationen hinweg stetig im Bewusstsein erneuert würde. Das Denkmal für die ermordeten Juden in Berlin ist gerade nicht auf Einfühlung ausgerichtet – es geht nicht darum, dass die Besucher zwischen den Stelen tatsächlich eine Beklommenheit nachempfinden sollen, die der Todesangst der Opfer entspräche. Das Denkmal fängt das Eingepferchtsein in den Gettos, Güterwaggons, Konzentrationslagern und Gaskammern, das Verlassensein und die Ausweglosigkeit symbolisch als ein angedeutetes Labyrinth aus Grabsteinen ein. Aber an ebendiesem Mahnmal lässt sich Tag für Tag beobachten, wie schwierig dieser Übergang ist. Es überträgt eine reale Situation ins Zeichenhafte. Die Besucher jedoch, zumal die jüngeren, laufen zwischen den Stelen, als wären sie in einem Mitmachtheater, das schockieren soll. Aber es schockiert natürlich nicht. Also packen sie ihr Butterbrot aus. Wenn in der eigenen Biographie die Referenzpunkte fehlen, auf die sich das kulturelle Gedächtnis in Formeln, Gesten und Symbolen bezieht, dann werden diese Formeln, Gesten und Symbole als leer empfunden.

          Es war dort geschehen, wo man im Westen nicht hinblickte

          Ich möchte noch auf eine weitere Schwierigkeit der sogenannten Gedenkkultur aufmerksam machen: Wer in Deutschland geboren ist, nach Deutschland einwandert, durch Deutschland reist, für den sind die Dimensionen des Völkermords an den Juden kaum zu fassen. In Deutschland waren die Juden eine winzige Minderheit, ein Prozent, als Hitler Reichskanzler wurde, ein Viertelprozent zu Beginn des Zweiten Weltkriegs. Man wohnt als Deutscher vergleichsweise selten in Häusern, in denen Juden gewohnt haben, geht nicht durch Straßen, in denen jeder Handwerksbetrieb einen jüdischen Besitzer hatte, ist nicht in Vierteln zu Hause, in denen alle Straßenzüge einmal ihre Mikwe, ihren Cheder oder ihre Synagoge hatten, lebt nicht in Städten, die mehrheitlich jiddisch sprachen. Die goldenen „Stolpersteine“, die hier und dort in den Bürgersteig eingelassen sind, verstärken mindestens im naiven, im kindlichen, unwissenden oder gehässigen Gemüt den Eindruck, dass es nur Einzelne waren. Tatsächlich: 165.000 jüdische Opfer mögen unter fast achtzig Millionen Deutschen wie „Einzelne“ erscheinen, wenn allein im litauischen Wilna siebzigtausend Juden ermordet worden sind – von hundertfünfzigtausend Bewohnern insgesamt.

          Zwei „Kalimihâ“, wie Juden im Persischen genannt werden, im Warschauer Ghetto, April 1942. Das Wort bedeutet „die Redner“ oder „die Redenden“ und ist eine Ableitung des arabischen Namens für Moses, der „kalim ollâh“ heißt, was wörtlich „der Redner Gottes“ oder „der mit Gott redet“ bedeutet – und sich daraus erklärt, dass Moses der einzige Mensch ist, zu dem Gott selber gesprochen hat.
          Zwei „Kalimihâ“, wie Juden im Persischen genannt werden, im Warschauer Ghetto, April 1942. Das Wort bedeutet „die Redner“ oder „die Redenden“ und ist eine Ableitung des arabischen Namens für Moses, der „kalim ollâh“ heißt, was wörtlich „der Redner Gottes“ oder „der mit Gott redet“ bedeutet – und sich daraus erklärt, dass Moses der einzige Mensch ist, zu dem Gott selber gesprochen hat. : Bild: akg-images / Mondadori Portfolio

          Die Westbindung der jungen Bundesrepublik, so zukunftsweisend sie war, hat den Holocaust aus dem topographischen Bewusstsein getilgt. Der eigentliche Völkermord an den Juden fand dort statt, wo man nicht hinblickte, wenn man im Westen Deutschlands geboren und aufgewachsen war: im Osten, in Belzec, Sobibor und Treblinka, in Auschwitz-Birkenau, Majdanek und Chelmno, in Maly Trostenez, Bronnaja Gora, Babi Jar und an vielen anderen Orten. Gewiss lernt man als junger Deutscher die Zahlen. Aber es ist noch einmal etwas anderes, wenn man auf Schritt und Tritt den Geistern der Ermordeten begegnet. Würde man in Wilna Stolpersteine in den Asphalt einlassen oder in Minsk, Lemberg, Odessa, Brest, Riga, dann wären nicht einzelne Flecken, sondern halbe Städte aus Gold – golden wie das himmlische Jerusalem.

          Nicht nur als Vergangenheit, sondern als Verantwortung

          Dass der Holocaust in die Ferne rückt, ist allerdings nicht nur den Jahren geschuldet, die vorüberziehen, oder den Kilometern, die zwischen dem heutigen Deutschland und den zentralen Stätten des Völkermords liegen. Es kommt eine demographische Entwicklung hinzu. Immer mehr Menschen leben in Deutschland, die nicht einmal mehr einen familiengeschichtlichen Bezug zum Nationalsozialismus haben. Sie tragen keine Namen, wie sie die Täter getragen haben, sie gehören schon physiognomisch nicht der Volksgemeinschaft an, die Hitler zusammengeschweißt hat, sie stoßen bei der Entrümpelung nicht auf alte Abzeichen oder Feldpostbriefe – oder wenn, dann aus ganz anderen, ihren eigenen Kriegen. Nicht wenige stammen aus einem Land, der Türkei, das zahlreiche Verfolgte Hitler-Deutschlands aufgenommen hat. Andere sind Bürger eines Staates, der Islamischen Republik Iran, in dem der Holocaust mit Karikaturwettbewerben verulkt wird. Oder sie sind in Staaten aufgewachsen, in Syrien etwa, die seit Jahrzehnten in Feindschaft mit dem Staat Israel stehen. Manche gehören demjenigen Volk an, das selbst unter israelischer Besatzung lebt. Wieder andere haben sich in Deutschland oder in ihren Herkunftsländern an Predigten gewöhnt, in denen Juden als Schweine bezeichnet werden. Sie besuchen Schulen, auf deren Höfen das Wort „Jude“ wieder zum Schimpfwort geworden ist.

          Man braucht Einwanderer oder ihre Kinder und Kindeskinder nicht als erinnerungspolitischen Störfall zu behandeln. Die Frage, wie eine Vergangenheit gegenwärtig bleibt, wenn die biographischen Bezüge fehlen, stellt sich ebenso, wenn diese Bezüge sich allmählich auflösen, wie wenn es sie nie gab. Sie stellt sich nur ein, zwei, vielleicht auch drei Generationen früher, und sie stellt sich auf andere Weise, wenn nicht einmal in groben Zügen bekannt ist, was zwischen 1933 und 1945 von deutschem Boden aus geschah. Insofern sollte etwa den jungen Menschen, die in den letzten zwei Jahren in hoher Zahl als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind, durchaus ein besonderes Augenmerk gelten. Aber das Wissen allein, das ließe sich auch nachholend vermitteln, durch Lehrinhalte, Integrationskurse, Museumsbesuche, Klassenausflüge und letztlich durch Prüfungsaufgaben, die zu lösen sind. Schwieriger zu vermitteln wird es künftigen Deutschen sein, Auschwitz nicht nur als Menschheitsverbrechen, sondern als eigene Geschichte zu begreifen, nicht nur als Vergangenheit, sondern als Verantwortung Deutschlands.

          Nicht nur gedacht, sondern öffentlich gefordert

          Auschwitz ist kein Mythos, den zu vergegenwärtigen Zeichen, Gesten, Rituale, Denkmäler genügen. Ein Mythos setzt, damit er für wahr gehalten und von Generation zu Generation weitergetragen wird, Wunschdenken voraus: Man möchte ihn für wahr halten. Das heißt, die Vergegenwärtigung beruht, säkular gefasst, auf einer kollektiven Autosuggestion. Aber kein Deutscher möchte Auschwitz für wahr halten. Zwar können auch Katastrophen zu fundierenden Mythen einer Gemeinschaft werden – es sind sogar häufiger Katastrophen als triumphale Ereignisse, die über Jahrhunderte und Jahrtausende als Erinnerungsfiguren bewahrt werden, die Vertreibung aus Jerusalem, die Kreuzigung Christi oder für Schiiten die Ermordung des Imam Hussein bei Kerbela. Aber stets gilt die Identifikation, die rituell eingeübt und erneuert wird, den Opfern, nicht den Tätern.

          Dass Auschwitz aus dem kulturellen Gedächtnis des Judentums getilgt werden könnte, ist kaum denkbar. Hingegen wurde in Deutschland seit Beginn der Bundesrepublik nicht nur daran gedacht, sondern öffentlich gefordert, mit dieser schuldbehafteten Vergangenheit abzuschließen und sich wieder mehr oder ausschließlich mit den positiven Ereignissen und Personen der Geschichte zu identifizieren, welche immer das auch gewesen sein mögen.

          Nichts Ganzeres als ein gebrochenes Herz

          Wie gut das identitäre Wunschdenken funktioniert, lässt sich daran ablesen, dass sogar Goethe und Heine, um diese beiden Dichter stellvertretend für das glorifizierte Erbe zu nehmen, für den Nationalstolz in Anspruch genommen werden, obwohl beider Werk beispielhaft für die Sprengung nationaler Kategorien steht und sie Deutschland zeit ihres Lebens mit beißender Kritik überzogen haben. Je ferner Auschwitz rückt, desto leichter wird es Deutschen wieder fallen, sich an ihrer Geschichte zu erbauen. Und sie werden übersehen, dass gerade in der Gebrochenheit Deutschlands bundesdeutsche Identität und, ja, Stärke und Vitalität liegt. Es gibt nichts Ganzeres als ein gebrochenes Herz, lehrte der Rabbi Nachman von Berditschew.

          Der Satz ist einer meiner Lieblingssätze, Motto auch eines Buches von mir. Natürlich bezieht er sich auf die Liebe, die Liebe zu den Mitmenschen oder zu Gott, in jedem Fall auf eine individuelle Situation. Aber er lässt sich auch auf ein Gemeinwesen beziehen: Es gibt nichts Ganzeres als ein gebrochenes Herz. Wenn etwas spezifisch wäre an der deutschen Leitkultur, die dieser Tage wieder eingefordert wird, wären es nicht Menschenrechte, Gleichberechtigung, Säkularismus und so weiter, denn diese Werte sind durchweg europäisch, wenn nicht universal; es wäre das Bewusstsein seiner Schuld, das Deutschland nach und nach gelernt und auch rituell eingeübt hat – aber just diese eine Errungenschaft, die nicht Frankreich oder die Vereinigten Staaten, sondern die Bundesrepublik für sich reklamieren darf neben guten Autos und Mülltrennung, möchte das nationale Denken abschaffen. Umgekehrt gilt allerdings auch: Wer sich gegen ein völkisches Verständnis der Nation wendet, kann die historische Verantwortung nicht ethnisch engführen. Wer sich in Deutschland einbürgern lässt, wird auch die Last tragen müssen, Deutscher zu sein. Spätestens in Auschwitz wird er sie spüren, wenn er sich den Aufkleber an die Brust heftet.

          In Auschwitz niemals ein bloßer Besucher

          Welche anderen Verbrechen es auch gegeben haben mag, die man zur Relativierung heranzieht, ob von den Mongolen, während der Reconquista, bei der Eroberung Amerikas, im europäischen Kolonialismus, unter Stalin, in Ruanda oder heute im sogenannten „Islamischen Staat“ – das Verbrechen, für das Auschwitz steht, bleibt nicht nur in seinem Ausmaß und seiner industriellen Ausführung einzigartig. Nein, anders: Ausmaß und Ausführung des Holocausts sind nicht einmal der eigentliche Grund, warum unsere Gruppe unter dem Tor kein fröhliches Gruppenfoto machen konnte. Wären wir etwa gelöster gewesen, wenn es irgendwo auf der Welt einen noch größeren, sagen wir, atomaren Genozid gegeben hätte? Nein, der Grund ist ein anderer, er steht über dem Tor: Auschwitz ist das Böse, das nun einmal auf Deutsch propagiert und geglaubt, angeordnet und vollzogen worden ist.

          Noch wer heute das ehemalige Konzentrationslager besucht, dem sticht ins Auge, dass alle Befehle, die an die Wände geschrieben worden, und alle Dienstpläne, die in den Vitrinen ausgestellt sind, selbst die Gebrauchsanweisungen auf den Chemikalien, die vor den Gaskammern stehen, deutsch sind. Wer diese Sprache spricht, und erst recht wer als Schriftsteller von ihr, mit ihr, dank ihr lebt, verstummt instinktiv, wenn er die Aushänge der damaligen Lagerleitung – „Ihr seid hier in einem deutschen Konzentrationslager“ – liest. Und er begreift, warum keiner der heutigen Hinweise auf Deutsch ausgeschildert ist. Man wird als Deutscher in Auschwitz niemals ein bloßer Besucher sein.

          Der Platz, auf dem sie sich Gedichte zuflüsterten

          Von Auschwitz fuhr ich weiter nach Warschau, um das Denkmal des Ghetto-Aufstands zu besichtigen. Als ich den Platz betrat, auf dem ein deutscher Bundeskanzler instinktiv auf die Knie fiel, fragte ich mich, wo wohl das Haus gestanden hat, in dem Marcel Reich-Ranicki nach seiner Ausweisung aus Berlin untergekommen war, und wo das Bett, in dem er seiner Tosia Stunde um Stunde deutsche Gedichte vortrug? Am häufigsten waren es Gedichte von, natürlich, Goethe und Heine, „die uns vergessen ließen, was uns täglich bedrohte, was uns inmitten der grausamsten Barbarei stündlich bevorstehen konnte“, heißt es in Reich-Ranickis Autobiographie, deren Titel „Mein Leben“ man erst im Laufe der Lektüre auf dem richtigen Wort betont: „Mein Leben“. Und wo stand der Hof, in dem nachmittags Mitglieder des Ghetto-Orchesters Beethovens Quartett op. 59 Nr. 3 C-Dur einstudierten, dessen erste Takte vierzig Jahre später die Anfangs- und Schlussmusik des „Literarischen Quartetts“ wurden? „Es lässt sich kaum vorstellen, mit welcher Hingabe geprobt, mit welcher Begeisterung musiziert wurde. Man spielte Haydn und Mozart, Beethoven und Schubert, Weber und Mendelssohn-Bartholdy, Schumann und Brahms, also, wie überall in der Welt, vornehmlich deutsche Musik.“

          Vielleicht weil auf den Bildern vom Kniefall kaum etwas von der Umgebung zu sehen war, stets nur der Platz sowie im Hintergrund die Soldaten und Funktionäre, hatte ich mir immer vorgestellt, dass es tatsächlich noch ein Ghetto geben müsse, irgendetwas aus dieser Zeit. Aber natürlich gibt es kein einziges historisches Gebäude, nicht einmal eine Mauer, ich hätte es wissen müssen. Der Platz ist leer, auf dem Marcel und Tosia sich Gedichte zuflüsterten und nachmittags das Ghetto-Orchester auftrat. Aber wer Marcel Reich-Ranickis „Mein Leben“ gelesen hat, der vergisst nie, dass dort, genau dort, wo heute das Denkmal des Warschauer Ghetto-Aufstands steht, im Frühjahr 1942 üblicherweise ein etwas gelangweilter junger Mann mit einer offenbar nagelneuen Reitpeitsche entschied, wer nach links und wer nach rechts gehen musste, links zum „Umschlagplatz“, zu den Waggons in die Gaskammern, rechts zurück vorerst ins Leben. „Meine Eltern hatten schon wegen ihres Alters – meine Mutter war 58 Jahre alt, mein Vater 62 – keine Chance, eine ,Lebensnummer‘ zu bekommen. Ich sagte ihnen, wo sie sich anstellen mussten. Mein Vater blickte mich ratlos an, meine Mutter erstaunlich ruhig. Sie war sorgfältig gekleidet: Sie trug einen hellen Regenmantel, den sie aus Berlin mitgebracht hatte. Ich wusste, dass ich sie zum letzten Mal sah. Und so sehe ich sie immer noch: meinen hilflosen Vater und meine Mutter in dem schönen Trenchcoat aus einem Warenhaus unweit der Berliner Gedächtniskirche. Die letzten Worte, die Tosia von meiner Mutter gehört hat, lauten: ,Kümmere dich um Marcel.‘ Als sich die Gruppe, in der sie standen, dem Mann mit der Reitpeitsche näherte, war er offenbar ungeduldig geworden: Er trieb die nicht mehr jungen Leute an, doch schneller nach links zu gehen. Er wollte schon von seiner schmucken Peitsche Gebrauch machen, aber es war nicht mehr nötig: Mein Vater und meine Mutter – ich konnte es von weitem sehen – begannen in ihrer Angst vor dem strammen Deutschen zu laufen, so schnell sie konnten.“

          Ein Verlust für uns, die wir heute Deutsche sind

          Ich gestehe, dass ich Marcel Reich-Ranickis Rezensionen nicht ausstehen konnte, dass ich seine Art und Weise, ausschließlich rabiat oder überschwänglich über Literatur zu urteilen, Daumen hoch, Daumen runter bis hin zum physischen Zerreißen von Büchern vor der Kamera, unmöglich fand und froh bin, mit meinem eigenen Werk nicht mehr in die Hände solcher „Großkritik“ geraten zu sein (was wirklich mal eine Gnade der späten Geburt ist). Deshalb, letztlich aus Ressentiment, hatte ich auch seine Autobiographie nicht gelesen, obwohl sie weithin als Ereignis in der deutschen Literaturgeschichte besprochen worden war. Aber nun reiste ich nach Auschwitz, ich reiste nach Warschau, ich wollte mit eigenen Augen den leeren Platz sehen, und so besorgte ich mir „Mein Leben“, besorgte mir alles, was Marcel Reich-Ranicki über Juden in der deutschen Literatur geschrieben hatte, die „Ruhestörer“, wie er sie gern nannte, und staunte nicht nur über den Reichtum an Erfahrung, Wissen und Weisheit; ich war mehr noch von der Zärtlichkeit von Marcel Reich-Ranickis Prosa bewegt.

          Die Aufsätze über deutsch-jüdische Literatur gehören zum Vorsichtigsten, ja Skrupulösesten, was zu diesem Thema je geschrieben worden ist, und seine Schilderungen des Warschauer Ghettos rühren in ihrer dezidierten Antisentimentalität noch den hartgesottensten Leser zu Tränen. Und ich fragte mich: Was ist es, was ich, was Millionen Leser – fast drei Jahre stand das Buch ununterbrochen auf der Spiegel-Bestsellerliste –, was also praktisch die gesamte lesende Bevölkerung Deutschlands bei der Lektüre empfunden hat – ist es Schuld? Ja, Schuld, denn die Geschichte zu tragen, von ihrer Last auf die Knie zu sinken ist keine Frage der persönlichen Täterschaft – Brandt hat gegen Hitler gekämpft –, sondern der Verantwortung für den Ort, an dem man nun einmal lebt. Scham? Gewiss ist es auch Scham: Scham, ebendas gute, sichere und bequeme Leben zu führen, das Deutschland den Juden vorenthalten hat. Aber ist das alles? Sind Schuld und Scham die einzigen oder auch nur die vorherrschenden Gefühle, mit denen heutige Leser auf Marcel Reich-Ranickis Schilderungen aus dem Warschauer Ghetto reagieren? Ich glaube nicht. Mich jedenfalls überkam bei der Lektüre von „Mein Leben“ mehr noch der Eindruck eines immensen, eines nicht mehr gutzumachenden Verlusts – eines Verlusts für uns, die wir heute Deutsche sind.

          Aus der Ferne noch deutlicher erkennbar

          Reich-Ranicki hat beschrieben, wie er als polnischer Jude mit deutscher Kultur aufwuchs, mit welcher Leidenschaft Lessing und Schiller, Beethoven und Bach in seiner jüdischen Umgebung geliebt und noch im Ghetto von Warschau deutsche Literatur und Musik fast wie etwas Heiliges verehrt wurden. Wenn das Deutschland von Goethe und Heine, diese geistige Welt, in der Begriffe wie Weltliteratur, Aufklärung, Europa und Kosmopolit geläufiger waren als Patriotismus, Vaterland oder Stolz, wenn es Anfang der vierziger Jahre irgendwo zu Hause war, dann sicher nicht in Berlin oder München, sondern im Ghetto von Warschau, in den Baracken von Auschwitz. Daher ist der Holocaust für Deutschland nicht allein eine Schuldgeschichte. Er ist zugleich eine Verlustgeschichte.

          Als Rechtsgemeinschaft, die sie auch ist, wird die Bundesrepublik immer der Nachfolgestaat des Deutschen Reichs sein; das prägt ihre Politik, ihre internationalen Beziehungen, ihre Verpflichtungen. Aber Schuld, wenn sie nicht in Kategorien des Bluts und der Volksgemeinschaft gefasst ist, Schuld vererbt sich nicht beliebig über die Generationen hinweg; man hat ein persönliches Verhältnis zu dem, was die Eltern, was die Großeltern taten, aber spätestens als Urenkel wird Schuld zu einem abstrakten Begriff, geht im besten Fall in politische Verantwortung und Einsicht über. Hingegen Verlust ist etwas, das man aus der Ferne, mit dem Abstand der Generationen noch deutlicher erkennt. Verlust ist etwas, das Hunderte oder sogar dreitausend Jahre später noch vergegenwärtigt werden kann.

          Als hätten die Sterbenden zu schweigen beschlossen

          Ich kehre noch einmal nach Auschwitz zurück: Wir hatten bereits eine dreistündige Führung hinter uns, in der sich der Schrecken kontinuierlich gesteigert hatte, von den Wohntrakten über die verschiedenen Hinrichtungsstätten, Folterkammern, Labors für die Menschenversuche bis in die Gaskammern hinein, an deren Wänden sich bis heute die Kratzer von den Fingernägeln abzeichnen. Wenn nach zwanzig Minuten die Gaskammer wieder geöffnet wurde, seien die Leichen häufig in einander verkeilt gewesen, erklärte die Führerin im Kopfhörer, den jeder Besucher trug – als hätten sich die Lebenden zum Schluss noch einmal umarmt, dachte ich. Tatsächlich dürfte selbst im Gedränge nichts einsamer als der Todeskampf sein und hatten die Körper wohl in Schmerz, Panik und Trauer unkontrolliert in alle Richtungen ausgeschlagen. Aber auch das ist nur eine Vermutung, denn wer immer Auschwitz überlebte, hat das tiefste Schwarz nicht selbst geschaut. Auschwitz konnte nur deshalb zum Synonym des Holocausts werden, weil es nicht allein eine Todesfabrik, sondern gleichzeitig ein Arbeitslager war – Auschwitz wurde von hunderttausend Häftlingen überlebt. In Treblinka, wo siebenhunderttausend Juden vergast wurden, gab es nur fünfzig Überlebende. Von Paneriai gab es noch weniger Zeugen, entsprechend ist den meisten Deutschen nicht einmal der Name des litauischen Ortes geläufig, an dem Wehrmacht und SS mehr als hunderttausend Menschen erschossen.

          Mahnmale, Stolpersteine, Gedenkrituale können keine Ahnung von der Schwärze geben, in die Menschen von Ideologien gestoßen werden können. Sie können nur daran erinnern. Aber damit sich überhaupt eine Erinnerung ins Herz brennt, auf die sich die Mahnmale, Stolpersteine, Gedenkrituale beziehen, wird es für künftige Generationen noch wichtiger sein, mit eigenen Augen die Orte zu sehen, an denen Deutschland die Würde des Menschen zermalmte, jene Länder zu bereisen, die es in Blut ertränkte, die Zeugen zu hören, die in ihren Büchern überleben. Je häufiger der Paulskirchenseufzer erklingt, die Deutschen seien jetzt „ein normales Volk, eine gewöhnliche Gesellschaft“, desto mehr wird es auf die Konkretion ankommen, die der Literatur, der Kunst überhaupt und natürlich der historischen Forschung aufgetragen ist. Auch wenn es unmöglich ist, muss jede Generation von neuem versuchen, ins Schwarze zu sehen. Die jüdischen Arbeiter, die die Kammer nach jeder Vergasung als Erste betraten, wateten durch Blut, Kot und Urin. Sie zerrten die Leichen auseinander und legten sie auf den Rücken, um die Goldzähne zu entfernen, die das Deutsche Reich als sein Eigentum betrachtete. Die Münder zu öffnen war harte körperliche Arbeit, bedurfte Werkzeugen sogar, so fest waren viele Kiefer zusammengepresst – als hätten die Sterbenden mit ihrer letzten Regung zu schweigen beschlossen. Was soll der Mensch noch sagen, wo er solches Menschenwerk sieht? Ich stand da und merkte – es war eine physische Erfahrung –, wie sich auch der eigene Kiefer zusammenpresst.

          Ein Kaddisch auch der deutschen Kultur

          Dass nach Auschwitz kein Gedicht mehr geschrieben werden könne, ist so häufig missverstanden, verlacht, abgetan worden; dabei hat Adorno selbst sich nach dem Krieg vehement für die avancierte Poesie eingesetzt. In der Gaskammer bekommt der Satz eine natürliche Evidenz, nicht als Bannstrahl, vielmehr als Ausdruck der unmittelbaren Empfindung – wie soll Zivilisation nach so etwas überhaupt noch weitergehen, was hat sie für einen Wert? Deutschland hat sich in Auschwitz selbst verstümmelt, es hat Grundfesten seiner Kultur abgerissen, es hat die treuesten Bewahrer seiner Sprache ermordet. Auschwitz hat die Sprache selbst verändert, es hat sie viel mehr, als sie es vor dem Krieg war, strenger auch als andere moderne Sprachen, zu einem Instrument, die Sprache auf ihre Funktion der Mitteilung reduziert. Es gibt Ausdrucksweisen, eine bestimmte Höhe des Tons, einen Gesang in der Stimme, der nach Auschwitz im Deutschen unmöglich geworden ist, der nur noch als Raunen empfunden wird.

          Gewiss, es wurden auch nach dem Krieg noch deutsche Gedichte geschrieben. Aber nie mehr war die deutsche Literatur, was sie vor Auschwitz war. Nicht nur hat sie mit der Vertreibung und Vernichtung der Juden ihren Rang eingebüßt und ihren Charakter verloren. Am genauesten an den Gedichten Paul Celans wurde hörbar, dass sie nur in der Zertrümmerung, ja der Stille, den Pausen noch lebendig sein konnte. Celan wurde unmittelbar nach dem Krieg bespöttelt, er wurde zumal bei seinem Auftritt vor der „Gruppe 47“ verlacht. Heute dürfte klar sein, dass in deutscher Sprache seither keine wahrhaftigeren, ergreifenderen, ja in ihrer Zerstörtheit auch schöneren Gedichte als zuletzt in dieser Überlebenspoesie geschrieben werden konnten. Nein, die Erinnerung an Auschwitz ist kein „jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung“ der Deutschen, wie Martin Walser beklagte. Sie ist ein Kaddisch auch der deutschen Kultur. Es gibt in der deutschen Nachkriegsliteratur nichts Ganzeres als Celans zerbrochenen Vers.

          Übertragbar auf andere Formen der Entfremdung

          Es ist bezeichnend, dass Martin Walser die Revision seiner Friedenspreisrede mit einer literarischen Entdeckung eingeleitet hat: der Entdeckung der jiddischen Literatur. Hatte er, der sich in den sechziger Jahren unerschrocken wie wenige mit der jüngsten deutschen Vergangenheit auseinandergesetzt hatte, 1998 etwa die deutsche Vorkriegsliteratur übersehen? Marcel Reich-Ranicki selbst, der von Walsers Rede tief getroffen war, wies einmal darauf hin, dass die Grundlagen der modernen Literatur von Franz Kafka geschaffen worden sind; die Grundlagen der modernen Physik von Albert Einstein; die Grundlagen der modernen Musik von Gustav Mahler und Arnold Schönberg; die Grundlagen der modernen Soziologie von Karl Marx; die Grundlagen der modernen Psychologie von Sigmund Freud. Sie alle waren nicht nur Juden. Sie waren deutschsprachige Juden. Reich-Ranicki nannte das ein „Mysterium, das ich nicht erklären kann“. Weder die französischsprachigen Juden haben solche Schöpfergeister hervorgebracht noch die italienischen oder die russischen. Aber in der frühen Moderne auch selten Deutsche, die nur Deutsche waren. Um im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus nicht nur Opferzahlen zu nennen, 165 000 ermordete Juden in Deutschland oder sechs Millionen insgesamt, sei auch der Reichtum in eine Zahl gefasst, den Juden Deutschland geschenkt haben: Obwohl der Anteil der jüdischen Bevölkerung Deutschland und Österreichs ein Prozent nicht überstieg, waren unter den berühmtesten, bis heute anerkanntesten, meistübersetzten deutschsprachigen Schriftstellern in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts rund die Hälfte Juden – fünfzig Prozent. Der Nationalsozialismus hat die produktivste Symbiose überhaupt der deutschen Kulturgeschichte zerstört und zugleich einen Begriff von Deutschland vergessen gemacht, der die nationalen Kategorien sprengt, ebenjenes Deutschland Goethes und Heines als einer geistigen Welt.

          Gewiss gibt es keine stilistischen oder formalen Merkmale, die für deutsche Schriftsteller jüdischer Herkunft charakteristisch wären. Aber es gibt eine spezifische soziale Situation, als Juden innerhalb einer nichtjüdischen und oft genug feindlichen, sie ausgrenzenden Gesellschaft zu leben, die sich in ihrem Werk niedergeschlagen hat. Die „Wunde des Ausgerissenseins aus der natürlichen Ordnung“, wie Margaret Susman es genannt hat, macht die deutsche Literatur von Juden besonders und zugleich übertragbar auf andere, auch individuelle Formen der Entfremdung. Marcel Reich-Ranicki zitiert Susmans Ausdruck und fügt an: „Nur dann nämlich, wenn man die spezifische Situation und die Eigenart der deutschen Schriftsteller jüdischer Herkunft ausdrücklich betont, nur dann macht man sie verständlich und trägt zu ihrer Wiedereinbürgerung bei.“

          Wenn jemand vermisst wird

          Dass Marcel und Tosia Reich-Ranicki als zwei von wenigen Bewohnern das Ghetto überlebt haben, dass sie zurückgekehrt sind nach Deutschland, dass der junge, enthusiastische, in der Bundesrepublik zunächst so verlorene Marcel zum bekanntesten Kritiker, ja zum „Literaturpapst“ der Deutschen wurde, das ist eine jener seltsamen, in ihrer Glückhaftigkeit fast unglaubwürdigen Wendungen, die das zwanzigste Jahrhunderts neben allen Katastrophen eben auch genommen hat. Und doch blieb er unversöhnt, und unversöhnt muss Auschwitz sein. Marcel Reich-Ranicki erwähnte einmal einen Mann, der ihm wiederholt ins Gesicht gesagt habe: „Sie, Herr Reich-Ranicki, waren im Warschauer Ghetto, und ich war damals Hitlers Jagdflieger. Daran werden wir bis ans Ende unserer Tage denken, und das wird uns immer trennen.“ Reich-Ranicki nannte diesen Mann „ehrlicher als die professionellen Philosemiten, er steht mir näher als jene, denen die Worte ,Versöhnung‘ und ,Brüderlichkeit‘ immer so rasch aus der Feder fließen.“ Wenn wir dankbar sind, dass Reich-Ranicki nach Deutschland zurückgekehrt ist, dankbar erst recht für die Gedichte, die Paul Celan hinterlassen hat, dankbar für Nelly Sachs, Peter Weiß, Theodor W. Adorno, Ilse Aichinger und die anderen, die nach Auschwitz die deutsche Sprache und Kultur geborgen haben, dann sollten wir auch das Deutschland ernst nehmen, für das sie stehen: nicht die deutsche Nation, sondern eine geistige Welt. „Sie können in mir keinen Deutschen sehen“, sagte Marcel Reich-Ranicki in dem Interview, aus dem ich bereits zitiert habe. „Machen Sie keinen Deutschen aus mir. Ich bin ein Bürger der Bundesrepublik Deutschland. Selbstverständlich und gern. Mir gefällt dieser Staat, trotz allem. Ich schreibe in deutscher Sprache, ich bin ein deutscher Literaturkritiker, ich gehöre zur deutschen Literatur und Kultur, aber ich bin kein Deutscher und werde es nie werden.“

          Heute leben viele Menschen in Deutschland, die nicht nur deutsch sind, die vielleicht auch gar nicht deutsch werden wollen im Sinne einer Identifikation mit Fahne, Küche und Brauchtum, die ihr Fremd- und Anderssein als etwas Schönes und Selbstverständliches sehen, aber genauso selbstverständlich und gern Bürger der Bundesrepublik sind. Sie schreiben in deutscher Sprache, sind vielleicht sogar Träger deutscher Kultur. Aber weder waren ihre Vorfahren im Warschauer Ghetto noch waren sie Hitlers Jagdflieger. Wenn sie Auschwitz besuchen, werden sie ebenfalls das Wort „deutsch“ auf der Brust tragen. Spätestens unterm Tor werden sie Auschwitz als eigene Geschichte sehen. Vielleicht liegt darin eine Chance für Deutschland, in der Auslöschung der Juden nicht allein die Schuld anzuerkennen, sondern zugleich den Verlust zu empfinden. Dschâ-ye schân châlist, sagt man auf Persisch, wenn jemand vermisst wird, wenn er bei einem Fest, bei einem Begräbnis oder einfach im eigenen Leben, im Alltag fehlt. Das bedeutet, wörtlich übersetzt, „ihr Platz ist leer“, oder auch „ihr Platz ist frei“, im Sinne von freigehalten. Dschâ-ye schân châlist, sei diese Rede eines Deutschen über Auschwitz auf Persisch beendet. Dschâ-ye châli-ye Kalimihâ dar Âlmân wa hameh dschâ-ye donyâ ke koschtand-e-schân wa tard-e-schân kardand yâ in rouzhâ hatâ badnâm wa tahdid-e-schân ham mikonand har-tsche bischtar ehsâs mischawad.

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