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Kommentar zu Antisemitismus : Wie Judenhass laut wird

Aus Angst vor Antisemitismus: Wenn Juden ihre Kippa lieber unter der Baseballmütze verstecken. Bild: dpa

Jetzt reden wir über Jan Böhmermann, Serdar Somuncu und Oliver Polak. Motto: Wer wusste von dem Gag mit dem Desinfektionsspray? Warum reden wir nicht über das Thema, um das es in Polaks Buch „Gegen Judenhass“ geht?

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          Der Titel der Dokumentation, welche die ARD am späten Montagabend im Programm hatte (in der Mediathek ist sie verfügbar), wirkt etwas hochtrabend: „Der Antisemitismus-Report“ heißt sie. Ihr Autor Adrian Oeser versammelt darin alle Facetten, die das Phänomen hat.

          Da gibt es den Antisemitismus von Rechtsradikalen, den von Muslimen, den von linken „Israel-Kritikern“ und der Boykottbewegung BDS und den aus der gesellschaftlichen, vermeintlich „bürgerlichen“ Mitte.

          Es gibt Anschläge und Drohungen gegen jüdische Restaurantbesitzer in Chemnitz und Berlin, Provokationen einer AfD-Besuchergruppe in der Gedenkstätte Sachsenhausen, Schmähungen gegen Kinder und Jugendliche, die zum Sportverband Makkabi gehören, die geifernde Hasstirade eines Berliners und die gewaltsame Attacke eines Flüchtlings auf einen Kippaträger.

          Alles „Einzelfälle“, könnte man sagen, die nicht verallgemeinert werden sollten. Dann könnte man zur Statistik greifen, feststellen, dass die Zahl der gemeldeten Übergriffe und Straftaten kaum gestiegen ist, und geht – ähnlich wie beim Thema sexueller Angriffe auf Frauen – am Problem vorbei.

          Denn das beginnt nicht erst, wenn Bürger den Eindruck bekommen, dass der Rechtsstaat versagt und die Sicherheit, ohne die es keine Freiheit gibt, nicht mehr gewährleistet ist. Es beginnt im Alltag mit scheinbaren Kleinigkeiten, mit „Witzen“, mit abschätzigen Bemerkungen, mit Beschimpfungen, die sich zu einem Grundrauschen verdichten, das dazu führt, dass Bürger jüdischen Glaubens sich in der Öffentlichkeit unsichtbar machen, die Kette mit dem Davidstern unter dem T-Shirt tragen, keine Kippa aufsetzen und die kleinen Kinder des Rabbis der jüdischen Gemeinde in Offenbach sich lieber nicht in enger Vertrautheit mit dem Vater auf der Straße sehen lassen – weil das Anlass für Anfeindungen gibt, denen sie entgehen wollen.

          Das ist ein Befund, der sich nicht in der Kriminalstatistik findet, den Politik, Medien und Gesellschaft erst so langsam wahrnehmen und der, wie man jetzt am Streit um einen Jahre zurückliegenden Sketch des ZDF-Moderators Jan Böhmermann, über den sich der jüdische Komiker Oliver Polak in seinem aktuellen Buch (ohne den Namen zu nennen) beschwert hat, in den Hintergrund tritt, sobald es um persönliche Auseinandersetzungen geht, die zu Schaukämpfen werden. Das Thema sich ausbreitender Ressentiments, die im öffentlichen Raum geduldet oder ignoriert werden, ist zu wichtig, um es derart zu versenken.

          Michael Hanfeld
          verantwortlicher Redakteur für Feuilleton Online und „Medien“.

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