Die Politik der Bundeskanzlerin : Angela Merkel tritt schon zu lange als Alternativlose auf
- -Aktualisiert am
Welche Entscheidung sie auch trifft, aus welchen Gründen auch immer, für Kritik daran schien es nie Gründe geben zu können: Angela Merkel Bild: Reuters
Angela Merkel lässt jede ihrer Entscheidungen als zwingend erscheinen. Doch sie tritt schon zu lange als Alternativlose auf. In der Flüchtlingskrise und bei den Wahlen rächt sich das jetzt.
Der Zorn über die Flüchtlingspolitik Angela Merkels hat sich ebenso verselbständigt wie das Lob für sie. Vor kurzem beispielsweise schrieben Journalisten noch Empört-euch-Essays darüber, Merkel habe das Land entpolitisiert, Mehltau liege über allem und so weiter. Heute gibt es für dieselben Leute gar kein schöneres Land, wer von Krise spricht, kennt die Arbeitslosenzahlen nicht oder ist rechts. Vor kurzem beschimpfte der Arbeitskreis golfspielender Sozialisten im Ortsverband Blankenese die Kanzlerin noch als neoliberal und (!) technokratisch. Jetzt erscheint ihnen dieselbe Regierung, die angeblich die Demokratie in Griechenland abgeschafft hat, für Deutschland fast schon alternativlos. Die gesinnungsethischen Gründe dafür liegen diesseits einer stets als Meinungsstärke ausgegebenen Schlichtheit auf der Hand: Je mehr die Falschen gegen Merkel schimpfen, mit desto weniger Kritik muss sie von denen rechnen, für die sie soeben noch die Falsche war.
Umgekehrt erwägt der hessische Landesverband der AfD gerade, Plakate zu drucken, die Merkel die Mitschuld an Terroranschlägen geben, falls es zu welchen kommt. Der ekelhaften Bereitschaft, Wut und Angst nicht nur anzuzapfen, sondern zu schüren und zu bewirtschaften, entspricht dabei ebenfalls kein einziger politischer Sachgedanke. Merkel muss weg – und dann? Es wird nicht mehr gefragt, was der Fall ist und welche Handlungsmöglichkeiten in der Frage der Einwanderung existieren, sondern nur noch, wem es Wasser auf die eigenen Mühlen sein könnte, was darüber gesagt wird. Hauptsache, man ist für oder gegen die Kanzlerin und das, wofür sie man sie stehen sieht.
Wofür sieht man sie stehen?
Doch wofür sieht man sie stehen? Was ist mit dem „das“ gemeint, das wir schaffen müssen und werden? Für jeden etwas anderes: Aufnahme, Schutz, Rechtsstaatlichkeit, Rückführung, Beschäftigung, Multikulturalität, finanzielle Nachhaltigkeit der Kommunalpolitik, Bildung, Assimilation, Erhalt der EU? Wenn selbst die schärfsten Analytiker unter ihren Anhängern finden, dass es zur Amtsführung der Kanzlerin gehört, das nicht erkennen geben zu können, versteht es sich fast von selbst, dass sie zur Projektionsfigur geworden ist. „Sie kennen mich“ lautete der Satz an das Fernsehpublikum, der ihr letztes Wahlkampfduell mit Wem-noch-mal beendete. Wer gewohnt ist, an Politik die Sachdimension von der Personalfrage zu unterscheiden, musste schon damals das Paradox bewundern, mit dem jener Satz einherging. Sagte die Kanzlerin im Grunde doch: „Sie kennen mich als Personifikation von Sachlichkeit, was immer ich tun werde, es wird sachlich sein.“
Das war nicht nur eine Abgrenzung gegenüber den Gockeln aller Farben und Länder um sie herum. Politische Sachlichkeit heißt für Angela Merkel auch seit je, sich durch eigene Entscheidungen über den jeweiligen Entscheidungskontext hinaus nicht stark binden zu lassen. Sie zog es stets vor, hier neoliberal, dort wohlfahrtsstaatlich, mal für und mal gegen die Banken, mal industriefreundlich und dann wieder ökologisch, erst pro Atomkraft, dann dagegen zu entscheiden. Das galt sogar in der Flüchtlingspolitik. In einem Jahr wurden die Italiener an das Abkommen von Dublin erinnert, im nächsten wurde den Deutschen gesagt, Dublin sei wenig hilfreich. Und jedes Mal wurde dabei der Eindruck von Sach- und Normzwängen erweckt, anders gehe es ja gar nicht.
Eine Zeitlang kann man das so machen. Der Preis dafür, eine vollkommen orientierungslose und entkernte Partei, wird in Kauf genommen, solange Wahlen gewonnen werden und sowieso niemand anderes sich aufdrängt. Man konnte ihn überdies umso leichter bezahlen, als die Opposition es seit langem vorzieht, mitzunicken und, wie die eigenen Leute, allenfalls in Randbereichen zu maulen.
Wer glaubt noch an den Sachzwang?
Nur das mit dem Sachzwang wird immer weniger geglaubt, weil das Argument bei wechselnder Entscheidungsrichtung zu oft verwendet worden ist. Es ging dann eben doch immer auch anders, von der Energiepolitik über die Finanz- und die Bildungspolitik bis zur Verschärfung der Asylgesetze. Ein zunehmender Einsatz von Wertereden macht überdies misstrauisch, wie weit her es ist mit der Personifikation von Sachlichkeit: vom Land, das andernfalls nicht mehr das ihre wäre, über den Westen als Wertegemeinschaft bis zur Versicherung, Deutschland werde mit allem, was uns daran lieb und teuer sei, Deutschland bleiben. Denn für das, was gar nicht anders geht, will man eine Krise vermeiden, muss nicht mit der Aussicht geworben werden, alles (alles!) Teure und Liebe bleibe erhalten. Und wenn es höchste Wertentscheidungen sind, die einen binden, warum taten sie es nicht schon vor 2015, und sind nach 2015 alle anderen Europäer aus der Wertegemeinschaft ausgetreten?
„Sie kennen mich“ – die eigentümliche Evidenz, die dieser Satz hatte, weil er allen Bürgern nahelegte, lieber im punktuellen Dissens mit Angela Merkel als Kanzlerin zu leben als in allgemeinem Konsens mit irgendjemand anderem, hat gelitten. Zwar würde ihr auch der nächste Wer-denn-diesmal kaum gefährlich werden. Aber wie man es einmal über den italienischen Fußball gesagt hat: Wer auch alle schlechten Spiele knapp gewinnt, lernt nicht mehr.