Amazonasforscherin im Gespräch : „Ein ziemlich tödliches Problem“
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Ein vom Bürgermeisteramt von Manaus zur Verfügung gestelltes Bild neuer Gräber auf dem Friedhof „Nossa Senhora Aparecida“ Bild: dpa
Vor einem Monat warnten Prominente auf der ganzen Welt vor einem Genozid an den indigenen Amazonasbewohnern. Wie hat sich die Situation entwickelt? Und welche Schritte sind jetzt nötig? Wir haben die Forscherin Sofia Mendonça gefragt.
Frau Mendonça, Sie arbeiten an der staatlichen Hochschule UNIFESP in São Paulo. Wie geht es Ihnen – und wie erleben Sie die Situation in der Stadt?
Wir sind gerade in einer ziemlich schwierigen Situation. Die Kurve der Neuinfektionen steigt noch, viele Menschen machen sich große Sorgen. Ich sitze im Homeoffice und versuche von hier aus mitzuverfolgen, wie sich die Pandemie in den Gegenden des Landes entwickelt, in denen noch indigene Gemeinschaften leben: im Amazonasgebiet, aber auch im Süden und Osten des Bundesstaats São Paulo. Die Seuche bewegt sich jetzt von den Städten in die Peripherie. Wir sehen das mit großer Sorge.
In den letzten Wochen gab es immer wieder verzweifelte Aufrufe zur Rettung der traditionellen Gemeinschaften in Brasilien. Der Fotograf Sebastião Salgado hat Unterschriften einflussreicher Prominenter aus der ganzen Welt gesammelt. Hat sich die Regierung für diese Interventionen interessiert?
Die politischen Machthaber in Brasilien arbeiten schon lange bewusst an einem anti-indigenen Kurs. Sie unterstützen die dauerhafte Besetzung von Gebieten, die eigentlich im Besitz der Indigenen sind, autorisieren gegen die eigentlichen offiziellen Verlautbarungen den Zutritt von Invasoren in deren fragile Lebensräume. Es sind die Diamantensucher, die den Bewohnern der Grenzregionen zwischen Venezuela und Brasilien gerade die Krankheit bringen, die Bergleute und Holzfäller, die es aus den Städten in die Wälder tragen. Das ist nur ein Problem mehr für diese Gemeinschaften. Aber ein ziemlich Tödliches.
Warum ist das Virus für sie besonders gefährlich?
Wegen der Landkonflikte waren die Bewohner des Amazonasgebiets schon vorher extrem gefährdet. Sie werden ja aus ihrem Lebensraum verdrängt und wissen nicht, wohin. Als die Pandemie kam, begannen sie tiefer in die Wälder hinein zu flüchten. Aber diese Gebiete werden von Eindringlingen kontrolliert. Außerdem ist es schwierig für sie, in der Stadt ersonnene Hygienevorschriften einzuhalten. Wie soll soziale Isolation in einem Dorf gelingen, in dem alle gemeinsam essen und schlafen? Und dann kommt hinzu, dass in diesen Gegenden das Gesundheitssystem sehr fragil ist. Es ist nicht auf so eine komplexe Lage eingerichtet. Sie haben vielleicht von den Zuständen in Manaus gehört. Da ist die Versorgung sofort zusammengebrochen. Wir brauchen mehr Ressourcen, um zu helfen.
Was müsste sich denn Ihrer Meinung nach tun, damit es nicht zum Schlimmsten kommt?
Wir brauchen eine breite Informationskampagne. Fachleute, die in die Dörfer gehen und die Bewohner mit einer Art Basiswissen zu Covid-19 versorgen, ihnen erklären, wie sie die Infizierten mit einem leichten Verlauf isolieren können. An der Hochschule erarbeiten wir gerade einen Informationspodcast. Im Bundesstaat von São Paulo unterstützen wir Initiativen, die nach Orten suchen, wo Menschen isoliert werden können, Schulen zum Beispiel. Die Bewohner müssen in ihren Regionen bleiben. Kommen sie mit ihren Familien auf der Suche nach Unterstützung in die Städte, erhöht sich das Ansteckungsrisiko enorm. Und zuletzt müssen die Invasoren der Lebensräume der Indigenen zum Rückzug gezwungen und Gewalt und Morde an ihnen konsequenter verfolgt werden.
Wann waren Sie selbst zum letzten Mal im Amazonasgebiet?
Das war Ende letzten Jahres. Wir haben damals eine Untersuchung zu den sich verändernden Lebensumständen und Krankheiten gemacht, die sich in den Gemeinschaften verbreiten. Wir haben festgestellt, welche gravierenden Probleme Übergewicht, aber auch Mangelernährung darstellen. In einigen Regionen ist die Kindersterblichkeitsrate sehr hoch. Die Belastung durch Krankheiten bei den Indigenen ist höher als im Durchschnitt der Bevölkerung Brasiliens. Im Grunde bräuchten die traditionellen Gemeinschaften mit ihren Ernährungsstandards und ihrer alternativen Medizin ihr eigenes Sub-Gesundheitssystem.
Ist die traditionelle Medizin in Zeiten von Corona eine Gefahr für die Amazonasbewohner?
Das sollte sie nicht sein. Die Indigenen versuchen natürlich, zu verstehen, was sie da für eine Krankheit heimsucht, und mit ihren Mitteln gegen sie anzugehen: Sie sammeln Pflanzen, Wurzeln. Zusätzlich zu den gesetzlichen Hygienemaßnahmen haben solche Praktiken der Biomedizin durchaus ihren Sinn. Aber wir brauchen Dialog, einen Wissensaustausch. In vielen Dörfern wird bei der Versorgung mit Medikamenten gar keine Rücksicht auf die traditionellen Heilkonzepte genommen. Menschen wurden abhängig von Stoffen, mit denen sie nie in Berührung hätten kommen sollen. Das gab es alles schon vor der Pandemie.
Wie viele Menschen sind denn ungefähr in Gefahr?
Der brasilianische Verein der indigenen Völker hat vergangene Woche 113 Tote und 610 Infizierte in 44 besuchten Stämmen gezählt. Das Gesundheitsministerium veröffentlicht andere, niedrigere Zahlen. Das mag zunächst nicht besonders gravierend klingen. Aber ich sage es nicht zum ersten Mal: Es besteht das Risiko eines Genozids. Indigene Bevölkerungsgruppen gibt es in allen Staaten des Landes. Sie haben unterschiedliche Arten von Kontakten und Konflikten. Einige leben in der Peripherie der großen Städte, wo es gigantische Probleme beim Zugang zur Gesundheitsversorgung gibt. Andere sind gänzlich isoliert. Spezialisten haben immer wieder auf die Gefahr der kompletten Auslöschung der traditionellen Gemeinschaften hier im Land verwiesen. Das Übertragungsrisiko, das haben die vergangenen Wochen gezeigt, ist erheblich. Es gab schon andere Epidemien, die ganze Volksstämme ausgelöscht haben.
Sofia Mendonça ist Koordinatorin des Gesundheitsprojekts für indigene Volksgemeinschaften am Xingu-Flussbecken im Amazonasgebiet. Sie fürchtet, der Virus könnte ähnliche Auswirkungen haben wie frühere Ausbrüche hochansteckender Erkrankungen wie Masern.
Aus dem Portugiesischen von Elena Witzeck
Traditionelle Volksgemeinschaften in Brasilien
Etwas mehr als 200 verschiedene indigene Volksgruppen leben in Brasilien. Anfang des 20. Jahrhunderts sank ihre Zahl erstmals unter eine Million. Die Guarani sind die größte Volksgruppe. Vor dem Kontakt mit den Europäern gab es 1,5 Millionen Guarani, heute sind es noch 30.000. Noch immer werden traditionelle Volksstämme, die sich gänzlich isoliert haben, beim Überfliegen des Regenwaldes entdeckt.