Debatte um Jugendsprache : Heute ich geh Diktat
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Schreiben als Herausforderung: Schüler aus Darmstadt während eines Diktats Bild: dapd
Die wohlfeile Reklame für das „Kiez-Deutsch“ speist sich aus einer einseitigen Sicht der Dinge. Kennt dieses linguistische Projekt überhaupt Grenzen?
In den Massenmedien wird gerade die Potsdamer Linguistin Heike Wiese herumgereicht. Sie hat ein Buch über das geschrieben, was sie „Kiez-Deutsch“ und eine „Jugendsprache des Deutschen“ nennt. Manchmal bezeichnet sie diesen Slang, in dem Sätze wie „Ich weiß, wo die gibs“ oder „Wir sind jetzt anderes Thema“ oder „Ich kenn ihn von Fitness“ geläufig sind, auch als einen „urbanen Dialekt“.
Gängiger wäre es, von Vereinfachungen zu sprechen und für die Jugendlichen zu hoffen, dass sie sich nicht allzu sehr daran gewöhnen. Doch die Linguistin möchte das normative Urteil gern umkehren. Es handele sich bei „Ich mach dich Messer“ und dergleichen nicht um ein Zurückbleiben hinter dem richtigen Deutsch, sondern um eine legitime grammatische Innovation. Selbstverständlich lässt sie sich mittels Fachsprache liebevoll beschreiben: „Funktionsverbgefüge durch semantische Bleichung der Verben“.
Ähnliche Fälle, die es im Deutschen schon gibt - „Krawatte tragen“, „Angst machen“ -, werden herangezogen, um auch „Messer machen“ für „greife dich mit dem Messer an“ ganz im Rahmen zu finden. Selbst wenn das „Tragen“ der Krawatte, anders als das „Machen“ des Messers, semantisch ungebleicht, nämlich im Wortsinn erfolgt. Doch Wiese ist weder wissenschaftlich noch normativ wählerisch. Wenn statt „dem Manne“ inzwischen meist „dem Mann“ gesagt wird, rechtfertigt das für sie - „die Vereinfachungen sind im Deutschen angelegt“ - auch weitere Simplifikation wie „Das ist mein Schule“. Vielleicht dann folgerichtig auch „mein Schul“?
Sprachgeschichtlich irrig, bildungspolitisch dumm
Dass das Kiez-Deutsch in vielen Fällen so klingt wie früher die gönnerhaften Ansprachen an Migranten durch Deutsche - „Du sprechen Deutsch?“ „Musst du erst gehen auf Personalabteilung“ -, bleibt dabei unberücksichtigt. So, wie eine Kultur der Armut entdeckt wurde, wo zuvor nur Mühsal war, wird jetzt auch in Sachen Bildung umgewertet. Unterstellt werden muss dabei, die Jugendlichen könnten auch anders, sie wollten nur nicht, weil es so für sie praktischer sei. Die Hoch- und Schriftsprache erscheint dann ihrerseits als bloßer Dialekt, mittels dessen die „Mittel- und Oberschicht“, die hier ein handlungsfähiges Subjekt mit eigenen Interessen ist, sich von den unteren Klassen abzuheben suchte.
Das ist sprachgeschichtlich und soziologisch so irrig wie bildungspolitisch dumm. Ob die Jugendlichen über beide „Sprachen“ gebieten und nur je nach Anlass zwischen ihnen wechseln, bleibt eine empirische Frage. Man könnte sie an ihrem Schriftgebrauch überprüfen oder daran, wie sie sich in Situationen zurechtfinden, in denen ihnen Hochsprache abverlangt wird. Wenn gleichzeitig beklagt wird, die Mittelschichten zögerten, Bewerber mit Kiez-Deutsch einzustellen, scheint es mit der souveränen Verfügung über das ganze Repertoire nicht so weit her zu sein. Wiese selbst fordert, Kiez-Deutsch zum Teil des Grammatikunterrichts zu machen, weil Jugendliche dann eher bereit wären, sich mit dem Standarddeutsch zu beschäftigen. Wie denn nun?
Das linguistische Schulterklopfen ist nutzlos
So wiederholt sich der alte Denkfehler auch hier: Die normative Erwartung wird einerseits als bloße Konvention zum Vorteil bestimmter Kreise dargestellt, andererseits aber werden diejenigen, die von ihr abweichen, darin bestärkt, sich nicht in Besitz der entsprechenden Techniken zu bringen. Eine auf Chancengleichheit bedachte Schule müsste gerade die kulturellen Festlegungen der höheren Schichten allen Schülern zugänglich machen. Umso mehr, als diese Schichten mehr als die Hälfte der Bevölkerung umfassen. Der Versuch, umgekehrt diesen höheren Schichten ihre kulturellen Festlegungen wissenschaftlich auszureden, wirkt, vor allem bei solcher Machart, lächerlich.
Das erkennt leicht, wer beispielsweise die enorme Begeisterung beobachtet, die gerade ein Diktat-Wettbewerb wie „Frankfurt schreibt!“ bei Schülern weckt: ob nun um der Distinktion willen oder, viel näherliegend, aus der Freude am Schwierigen, der das Deutsche ja einigen Stoff bietet. Hanebüchen, nichtsdestotrotz, angst und bange, hungers sterben - oder war es doch Hungers? Man kann daran scheitern, darum ist es interessant. Die vorgebliche Gleichrangigkeit der Varietäten aber scheitert ganz einfach an der ungleichen Verfügung über sie. In der Kommunikation bestimmt der Empfänger, ob sie gelingt. Solange das Land also zunächst und zumeist kein Kiez ist und seine Organisationen keine Straßenecken, nützt es den Jugendlichen wenig, wenn man ihnen linguistisch auf die Schultern klopft.