Die Mauern sprechen, und das Pflaster antwortet
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Mittelalterliches „Judensau“-Relief an der Stadtkirche zu Wittenberg. Bild: EPA
Warum die „Judensau“ von Wittenberg nicht entfernt werden darf: Über deutsche Erinnerungskultur und eine aktuelle Debatte. Ein Gastbeitrag.
Das Büro der Evangelischen Stadtkirchengemeinde Wittenberg residiert in der Jüdenstraße 36. Was hätte Martin Luther von dieser Adresse gehalten, frage ich mich. Hätte er seinen Einfluss geltend gemacht, um den Straßennamen zu ändern? Oder dafür gesorgt, dass die Gemeinde sich woanders ein Büro sucht? Denke ich an Luthers Umgang mit dem Relief der sogenannten „Wittenberger Judensau“, dann hätte er vermutlich alles gelassen, wie es ist. Immerhin führte er die mittelalterliche Skulptur an der Außenwand der Stadtkirche noch 1543 in seinen antijudaistischen Schriften an – zu einer Zeit, als es in Wittenberg keine jüdischen Einwohner gab. Er wollte sichergehen, dass die Sau, an deren Zitzen zwei Juden saugen, während ein dritter ihren Schwanz lüftet, im kollektiven Gedächtnis der Bürger präsent bleibt, als Verbildlichung dessen, was er an anderer Stelle Teufelsdreck nennt. Luther bediente sich eines lokalen, 250 Jahre zuvor entstandenen Kunstwerks, um seine Argumentation für eine judenfreie Stadtgemeinschaft zu illustrieren.
Im August 2022 richtete ich gemeinsam mit mehr als fünfzig israelischen Wissenschaftlern und Studenten, zumeist Kunsthistorikern, eine Petition an die Evangelische Stadtkirchengemeinde, in der wir uns dafür einsetzten, das mittelalterliche Relief an seinem ursprünglichen Platz zu belassen. Unsere Petition kam in der Endphase eines weiteren Kapitels der langjährigen Kontroverse um die Frage, ob die Wittenberger Judensau abgenommen oder in situ belassen werden sollte. Im Juni 2022 hatte der Bundesgerichtshof in einem Urteil eine Empfehlung für den Verbleib ausgesprochen mit der Begründung, dass das Relief seit 1988 Teil eines Mahnmals ist, das im Pflaster des kleinen Platzes unter der Kirchenmauer an die sechs Millionen Juden erinnert, die von den Nazis ermordet wurden. Die endgültige Entscheidung lag jedoch beim Gemeindekirchenrat der Stadtkirche.
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