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Vorsicht, Datensammler : Wenn man etwas merkt, ist es zu spät

  • -Aktualisiert am

Es gibt nicht mehr viel, was sie nicht wissen: In Zeiten von Facebook, Google und NSA sind wir nicht mehr Herr über unsere Daten. Bild: REUTERS

Die Ausforschung unserer Privatsphäre durch Staaten und Konzerne unterminiert schon jetzt Freiheit und Demokratie. Dennoch wähnen wir uns in Sicherheit. Warum eigentlich?

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          Einer meiner persönlichen Helden ist Cioma Schönhaus. Der entzog sich im Frühjahr 1942 der Deportation und lebte als sogenanntes U-Boot, also als untergetauchter Jude, bis zum Sommer 1943 in Berlin. Sein Überlebenstrick bestand darin, dass er alles anders machte, als man es von jemandem erwarten würde, der im Untergrund existiert. Denn Schönhaus lebte extrem auffällig: Er kaufte sich ein Segelboot und fuhr damit bei schönem Wetter werktags auf dem Wannsee, ließ sich einen weißen Anzug schneidern und verkehrte in den Restaurants und Bars, die bevorzugt von den höheren NS-Parteichargen frequentiert wurden.

          Als er schließlich doch selbst ins Visier der Gestapo geriet und steckbrieflich gesucht wurde, fuhr er mit dem Fahrrad als Sommerfrischler getarnt bis zur Schweizer Grenze und überquerte sie mit viel Glück. Er überlebte den Holocaust.

          Warum ich diese Geschichte erzähle? Weil Schönhaus heute nicht mehr entkommen würde. Sein Überleben verdankt sich der Tatsache, dass man wenig über ihn wusste und er dieses wenige manipulieren konnte. Anders gesagt: Sein Verhalten war nicht transparent und daher nicht steuerbar. Dabei war Schönhaus’ Untergrundexistenz keineswegs eine individuelle Angelegenheit; unter anderem war er Teil des Hilfenetzwerks von Franz Kaufmann, das insgesamt rund 400 Personen umfasste und dafür sorgte, dass eine ganze Reihe Verfolgter die Chance bekam, Deutschland zu verlassen. Konspiration war möglich, weil es auch im totalitären „Dritten Reich“ Nischen des Privaten und der Intransparenz gab. Die Basis von Konspiration ist Vertrauen. Vertrauen wiederum setzt voraus, dass neben der öffentlichen eine private Person existiert.

          Die tägliche digitale Ernte

          In Zeiten von Facebook, Google und NSA hätte Schönhaus nicht die geringste Chance gehabt. Das Hilfenetzwerk von Franz Kaufmann hätte es nie gegeben, nicht eine einzige Verfolgte wäre gerettet worden. Heute wissen Verfolgungsbehörden alles über alle

          Das Grundgesetz der Bundesrepublik legt die Unverletzlichkeit der Person fest; die Erklärung der Menschenrechte sieht in Artikel 12 vor, dass niemand willkürlichen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung und seinen Schriftverkehr ausgesetzt werden darf. Diese Artikel wurden nach dem Zweiten Weltkrieg exakt aufgrund der Erfahrung formuliert, dass die Zerstörung des Privaten ein Wesenszug totalitärer Gesellschaften ist.Nun hat sich aber durch die Digitalisierung der Kommunikation ein Strukturwandel vollzogen, in dem das Verhältnis von öffentlich und privat, von informationeller Selbst- und Fremdbestimmung neu sortiert worden ist. Damit verändert sich auch der Raum des Politischen: Denn ohne Autonomie ihrer Bürger und ohne Institutionenvertrauen ist Demokratie nicht denkbar.

          Wie ist dagegen Widerstand zu leisten, dass die digitale Ernte von privaten und staatlichen Akteuren so unnachgiebig eingefahren wird, wie wir es gerade sehen? Mir scheint die Forderung nach einer Nachbesserung bürgerlicher Grundrechte, nach „digitalen Grund- und Menschenrechten“ irrig, denn die analogen Bürgerrechte würden ja ohnehin schon garantieren, was die digitalen sichern sollen, wenn sie denn respektiert würden. Werden sie aber nicht. Denn die Sozialverhältnisse der Kommunikation, die Rollen von Zeitlichkeit und Gedächtnis, das Verhältnis von öffentlich und privat, die Durchsetzungschancen von Marktmacht haben sich durch den informationellen Totalitarismus schon so verändert, dass die sozialen Voraussetzungen für demokratische Gemeinwesen radikal in Frage gestellt sind.

          Der verborgene informationelle Totalitarismus

          Man merkt das nicht sofort. Wenn man historische Zeugnisse studiert, ist es immer wieder verwunderlich zu lesen, wie viel Grund zur Beruhigung die Zeitgenossen fanden,wenn gerade die Freiheit abgeschafft wurde. Erfahrung erweist sich eben regelmäßig als Falle, wenn wirklich neue Verhältnisse eintreten. So eine Falle tut sich möglicherweise auch dann auf, wenn man die Gefährdung der Freiheit, ja der sozialen Verfasstheit unserer Lebensbedingungen, einzuschätzen versucht, wie sie aus dem informationellen Totalitarismus erwachsen, der ja nicht nur bereits eine totale Transparenz der individuellen Existenzen hergestellt hat, sondern exakt dies als Voraussetzung totaler Steuerbarkeit von Verhalten erkannt hat. Wir interpretieren diese Gefährdung nach historischen Erfahrungen, und da sieht Totalitarismus eben so aus wie bei Stalin, Hitler oder Pol Pot. Und nicht wie bei Steve Jobs.

          Auch ich habe die Gefahr des informationellen Totalitarismus bislang vor allem so gesehen, dass die Datenflut unter Bedingungen von Rechtsstaatlichkeit zwar beunruhigend, aber noch nicht wirklich gefährlich ist. Erst für den Fall, dass es durch einen Regimewechsel plötzlich nicht mehr mit rechtsstaatlichen Dingen zuginge, müsste man existentiell besorgt sein. Dieser Gedanke ist aber falsch, denn er geht von der irrigen Vorstellung aus, dass Systemwechsel aussehen wie Systemwechsel, dass sie abrupt und erklärtermaßen stattfinden.

          Systemwechsel finden dann statt, wenn sich Macht- und Vertrauensverhältnisse und die für selbstverständlich gehaltenen Regeln des Alltagslebens verändern, die Normen darüber, was als richtig und falsch gelten kann, und die Standards, welche Verfahren des sozialen Umgangs legitim und welche unzulässig sind. Freiheit und Selbstbestimmung sind bereits in Abschaffung begriffen, wenn die Informationsindustrie das Verhalten der Menschen ebenso zu steuern begonnen hat wie ihr wirtschaftliches Schicksal.

          Das Gegenhandeln skizzieren: Harald Welzer
          Das Gegenhandeln skizzieren: Harald Welzer : Bild: picture-alliance / dpa

          Solcher Totalitarismus kommt selbst ganz unideologisch daher. Es braucht keine Uniformen, wenn die Uniformität informationell unter Kontrolle ist. Auch dem Totalitarismus in Kapuzenshirts genügt es, wenn die Menschen tun, was von ihnen gewollt wird. Die Erosion der Grenzen zwischen privater und staatlicher Verfügungsmacht bezeichnet schon ein neues Regime.

          Mal ganz ohne Internet und Telekommunikation

          Aber wie stellt man Öffentlichkeit als politische Gegenmacht her, wenn die systemischen Bedingungen von Öffentlichkeit selbst das Problem geworden sind? Der offene Brief, die akkumulierte Empörung der Unterschriftenlisten, der öffentliche Protest - alles das sind Widerstandsformen, die unter einer traditionellen Ökonomie der Aufmerksamkeit entstanden sind. Sie unterlaufen nicht die Produktionsbedingungen der staatlich-industriellen Überwachung, sondern verlangen lediglich nach ihrer Regulierung. Die liegt aber in den Händen derer, die mehrheitlich weder bereit noch willens sind, dem Strukturwandel gegenzusteuern.

          Es geht heute bereits nicht mehr um die Sicherung von Verfügungsmacht über die eigene Person, sondern um deren Rückgewinnung - daher um den Entzug von Information. In der Konsequenz würde das bedeuten, dass sich ein zunehmender Teil der Bevölkerung eben nicht mehr den scheinbar naturwüchsigen Vorgaben des staatlich-industriellen Überwachungskomplexes unterwirft, sondern andere Formen der Kommunikation entwickelt. Was konkret zum Beispiel hieße, für alles das, was man für wichtig hält, künftig weder das Internet noch Telekommunikation zu nutzen - warum sollte das nicht möglich sein? Oder mit Hilfe von kompetenten Hackern Gegenstrategien zu entwickeln, also etwa massenhaft sinnlose Informationen zu generieren, die mit dem Datenstrom interferieren, oder durch Multiplikatorprogramme die Datenmenge so erhöhen, dass sie nicht mehr auszuwerten ist.

          Analoges Vertrauen statt digitale Überwachung

          Hans Magnus Enzensberger hat mit seinen „Regeln für die digitale Welt“ in dieser Zeitung die bislang ernsthafteste Skizze politischen Gegenhandelns formuliert. Die hat von Seiten der sogenannten Netzgemeinde viel Spott auf sich gezogen, was wenig verwunderlich ist, weil sie ja die Bereitschaft voraussetzt, sich aus den scheinbar normal gewordenen kommunikativen Verkehrsformen herauszuhalten, sich also dem Rest der Gesellschaft gegenüber zu desynchronisieren. Das wäre natürlich unangenehm, weil man nicht mehr all die schönen Vorteile des Netzes nutzen und zugleich dagegen sein könnte.

          Aber: War Widerstand jemals kostenlos? Bestand er jemals in etwas anderem, als mit der Mehrheit nicht mehr synchron zu sein? Und: Könnte nicht die wichtigste Quelle des Widerstands darin liegen, dass Überwachung digital, Vertrauen aber analog ist?

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