Kampf um Deutungshoheit : Der Beginn des chinesischen Zeitalters
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Die Kalligraphie „Der Beginn des chinesischen Zeitalters“, gestaltet vom Künstler Gao Yanshang. Bild: Kalligraphie Gao Yanshang.
Wie würde es sich äußern, wenn der Westen seine Deutungsmacht abgibt? Vielleicht darin, dass er sich von anderen Mächten neu erfinden lässt. Der Konflikt der Universität Cambridge mit Peking ist ein Testfall.
Bisher konnte man sich nicht leicht vorstellen, wie es sein wird, wenn das westliche Zeitalter endet, wenn die eine Leitmacht die andere abgelöst haben wird. In welcher Art Kultur werden wir dann leben? Werden wir plötzlich von ganz fremden Ideen und Figuren besetzt sein? Seit der letzten Woche haben wir eine Ahnung davon, dass es in Wirklichkeit noch etwas anders sein könnte.
Die Nachricht schien erst mal nur eine Fußnote zu der schon bekannten Tatsache zu sein, dass sich die Zensur in der Volksrepublik China unter Präsident Xi Jinping immer weiter ausbreitet. Die „Cambridge University Press“, der älteste Verlag der Welt und bis heute einer der international bedeutendsten Orte für wissenschaftliche Veröffentlichungen, gab bekannt, dass die für Publikationsimporte zuständige Behörde in Peking von ihr verlangt habe, den Zugang zu 315 missliebigen Artikeln aus dem Archiv ihrer Zeitschrift „The China Quarterly“ im chinesischen Internet zu sperren. Und noch etwas gab der Verlag bekannt: Er habe dem Verlangen entsprochen. Um nämlich „sicherzustellen, dass andere wissenschaftliche und pädagogische Materialien, die wir veröffentlichen, Forschern und Dozenten auf diesem Markt zugänglich bleiben“.
Zwischen Triumph und Unbehagen
Das war am Freitag vorvergangener Woche. Am Montag danach nahm der Verlag in einer neuen Erklärung seine Entscheidung zurück: Er habe die Sperrung der Artikel wieder aufgehoben. Um nämlich „das Prinzip der akademischen Freiheit hochzuhalten, auf die die Arbeit der Universität gegründet ist“. In der Zwischenzeit hatte es jede Menge Proteste und zwei Petitionen gegeben. Von einer „außergewöhnlichen Kapitulation“ gegenüber China war da die Rede und davon, dass Cambridge „für ein paar chinesische Regierungs-Dollar seine Seele verkauft“ habe: „Pragmatisch ist ein Wort dafür, ein treffenderes ist erbärmlich“, twitterte ein Wissenschaftler. Der an der Peking-Universität lehrende amerikanische Ökonom Christopher Balding setzte eine Petition auf, in der die bald mehr als tausend Unterzeichner dem Verlag mit einem Boykott drohten, wenn er seine Selbstzensur nicht zurücknehme: „Als Wissenschaftler glauben wir an den freien und offenen Austausch von Ideen und Informationen über alle Themen, nicht nur die, mit denen wir übereinstimmen.“
Auf entsprechend große Erleichterung und Zustimmung traf die Selbstkorrektur der Universität, auch seitens inoffizieller Stimmen in China selbst. „Es ist ein Triumph der Moral“, schrieb der Pekinger Historiker Zhang Lifan auf Weibo, dem chinesischen Twitter. Doch bei vielen anderen ist ein tiefsitzendes Unbehagen geblieben. Der amerikanische Sinologe Andrew J. Nathan meint, dass der Ruf Cambridges nicht wiedergutzumachenden Schaden erlitten habe. Kein Autor könne künftig mehr sicher sein, dass der Universitätsverlag bereit sei, die Integrität seiner Arbeit zu verteidigen; deshalb habe er, Nathan, der Redaktion von „The China Quarterly“, die ihrerseits gegen die Selbstzensur Stellung genommen hatte, geraten, sich ein neues Verlagshaus zu suchen.