
Daniel Cohn-Bendit und Slavoj Žižek : Wir Europäer haben die Ressource der Aufklärung
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Žižek: Obama ist für Dinge, die er gesagt hat, heftig kritisiert worden, die unausgesprochen allen bekannt sind. Das ist in Amerika nicht anders als in China: Man darf über bestimmte Dinge nicht reden, auch wenn jeder von ihnen weiß. Ein Chinese hat mir erzählt, dass Deng Xiaoping gesagt haben soll, von dem, was Mao getan habe, seien siebzig Prozent gut und dreißig schlecht gewesen. Als ich ihn aber fragte, ob man in China ein Mao-Buch mit dem Titel „Dreißig Prozent“ veröffentlichen könnte, hat er natürlich abgewinkt.
Dath: Die Chinesen sind eben postmoderner als etwa die Türken in der Frage des Völkermords an den Armeniern.
Žižek: Allemal. Der englische Autor Richard McGregor hat in seinem Buch „The Party“ wunderbar beschrieben, wie es in China läuft: Auf der einen Seite sind da der Staat, die Kommunen, das Rechtssystem, und auf der anderen hat man die Kommunistische Partei, auf der das alles fußt, die aber offiziell gar nicht existiert. Vor zehn Jahren hat nämlich ein mutiger chinesischer Dissident eine Klage gegen die Kommunistische Partei wegen des Massakers von 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens eingereicht, aber das Gericht hat sie nicht angenommen, weil es keine Organisation in China gäbe, die Kommunistische Partei heißt. Das hätte sich Carl Schmitt nicht schöner ausdenken können.
Dath: Der permanente Ausnahmezustand wird zum permanenten Nichtzurkenntnisnahmezustand.
Cohn-Bendit: Aber kann man sich überhaupt vorstellen, wie man 1,5 Milliarden Menschen regieren soll?
Dath: Die Frage für eine linke Demokratie muss lauten: Wie können sich 1,5 Milliarden Menschen selbst regieren?
Žižek: Ich sitze hier nicht als naiver Linker. Ich glaube nicht daran, dass man den Chinesen alle bürgerlichen Freiheiten gibt, und schon läuft alles gut. Was allerdings heute außer den Hardlinern in der Partei jeder zugibt, ist, dass China eine Zivilgesellschaft und vor allem die daraus resultierende Protestbewegung braucht.
Dath: Ist es aber möglich, ohne den Druck des Faktischen auszukommen, wenn man etwas ändern will? Reicht dazu wirklich der Druck einer Zivilgesellschaft?
Cohn-Bendit: Wenn Sie das beantworten können, erhalten Sie den Nobelpreis.
Dath: Die Frage ist, was motiviert Protest und Dissidenz. Vor 1945 haben linke Massenbewegungen die Hoffnung aufs Goldene Zeitalter artikuliert, spätestens in den Achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts hieß es von Frieden bis Ökologie eher: Wir sind so gut wie tot, wenn wir so weitermachen. Einerseits argumentiert etwas wie die Occupy-Bewegung heute apokalyptisch, andererseits aber auch utopisch.
Cohn-Bendit: Die Situation auf dem Finanzmarkt ist aber wirklich apokalyptisch.
Žižek: Dazu meine Lieblingsanekdote: Im Jahr 1915 oder 1916 soll es einen Telegrammwechsel zwischen der deutschen und der österreichischen Regierung zur Kriegslage gegeben haben. Berlin schrieb nach Wien: „Die Lage ist ernst, aber nicht katastrophal.“ Aus Wien kam die Antwort: „Sie ist katastrophal, aber nicht ernst.“ Das ist unsere Realität: Man weiß etwas, nimmt es aber nicht ernst. Wobei es auch eine Art Katastrophismus gibt, der wieder ideologisch ist.