
Didaktik der Pandemie : Nicht alles in den Mund stecken!
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Hartmut Rosa Bild: dpa
Corona verführt manch einen Schlauberger dazu, die Einschränkungen der Pandemie als willkommene Lernhilfe für fast alles anzupreisen.
Die Bereitschaft, aus der Pandemie Lehren zu ziehen, aus Corona etwas zu lernen, ist erkennbar ein Ausdruck von Vernünftigkeit, etwa wenn es um die Belastbarkeit des Gesundheitswesens oder um die Zukunft des Städtebaus geht. Von solch vernünftiger Lernbereitschaft ist eine törichte Corona als „Lehrmeisterin des Lebens“-Ideologie zu unterscheiden, die die Pandemie für noch den kleinsten didaktischen Mehrwert in Anspruch nehmen möchte. Gearbeitet wird dabei mit steilen Lernkurven, die ein Maximum an Lernertrag (Stoffmenge) bei einem Minimum von Lernaufwand (Zeit) versprechen.
Das Zuchthaus als idealer Lernort?
Ein Meister im pandemischen Magistra-vitae-Genre ist der Soziologe Hartmut Rosa. Er erblickt in Corona eine Werbebotschaft für die Unverfügbarkeit des Daseins, und zwar in einem überraschend eng vom Sein aufs Sollen gezogenen Ableitungswinkel. „In unserer Lebenswelt sind uns Dinge massiv unverfügbar geworden“, erläutert Rosa im Deutschlandfunk den lebensdienlichen „Brennglas“-Effekt der Pandemie. „Wir können nicht mehr an unseren Urlaubsort reisen, müssen vielleicht die Hochzeit oder eine Familienfeier absagen. Die Geschäftsreise fällt aus, das Fußballspiel.“ Und was lernen wir daraus? Vielleicht dies: Kurze Wege als erste Bürgerpflicht? Nicht doch, für Rosa geht es um mehr, ums Ganze des Weltverhältnisses. Aus der Tiefengrammatik der Krise entnimmt er die Einsicht, dass eben nicht alles Wünschbare machbar ist. Die Quarantäne ist, so gelesen, eine willkommene Lernhilfe für das, was jedes Kleinkind zu lernen hat, um sich in der Welt zurechtzufinden: nicht alles in den Mund stecken! Caramba Corona! Wie lebensklug müsste man dann erst in der radikalisierten Quarantäne eines Zuchthauses werden? Für Rosa ist die Pandemie ein Exzess der Bewusstwerdung von gemeinhin nur „hinterrücks“ Gewusstem, ein eye opener fürs Naheliegende.
Das Unverfügbare herunterbrechen
„Man kann es sich an sozialen Beziehungen oder Intimbeziehungen gut klarmachen“, erklärt Rosa den überhaupt erst von ihm behaupteten Klärungsbedarf. „Also“, hebt er als didaktischer Krisengewinnler an, den Wert des Unverfügbaren empirisch herunterbrechend, „wir können eigentlich nur Menschen lieben – oder wir lieben Personen dann –, wenn sie uns nicht völlig verfügbar sind. Das, was da zwischen Menschen entstehen kann, hat Lebendigkeit, weil der andere sich immer auch entzieht, immer auch anders antwortet oder anders handelt.“ Versteht man recht, erhöht Knappheit die Nachfrage auch im Zwischenmenschlichen. Den wiederum naheliegenden Einwand nimmt Rosa selbst auf dem Wege einer Generalklausel vorweg: „Das gilt für fast alles.“ Tatsächlich scheint Rosa auf Fragen zu antworten, die niemand stellt. Wie das kommt? Rosa hat vor einiger Zeit ein Büchlein über „Unverfügbarkeit“ geschrieben. Er bewirbt es wie die Pandemie selbst: als eine Lernhilfe für fast alles.