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Jürgen Kaube (kau)

Glossenverbot bei der NZZ : Kein Witz

  • -Aktualisiert am

Künftig um ein Textgenre ärmer? Frische Ausgaben der „Neuen Zürcher Zeitung“ in der Rotationsmaschine. Bild: dpa

In der „Neuen Zürcher Zeitung“ sollen die Journalisten keine Glossen mehr schreiben. Es stellt sich die Frage, ob dort nun Leichtsinn oder Doppeldeutigkeit unerwünscht sind, oder ob dort nicht vielmehr literarischer Notstand herrscht.

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          Dies hier ist eine Glosse. Anfänglich, in Antike und Mittelalter, meinte das Wort Randbemerkungen zu einem wichtigen Text, Erläuterungen von Worten, kleine Kommentare. Geschrieben wurden Glossen beispielsweise an den Rand des Talmud, der Psalmen, der paulinischen Briefe.

          Im Journalismus ist hingegen der Text, der durch die Glosse erläutert wird, ein Vorgang im Tagesgeschehen. Die Glosse ist eine kurze Gattung oft spielerischen Stils, die ein Streiflicht auf ihre Gegenstände wirft und wenig Unterschiede zwischen großen und kleinen Ereignissen macht. Alles kann zum Motiv einer Glosse werden, Staatsaktionen wie weggeworfene Coladosen. Hauptsache die Glosse hat eine Pointe, erzielt einen Treffer. In manchem ähnelt sie einem Witz, einem Streich, einer Anekdote.

          Soweit die Worterläuterung. Jetzt zum Vorgang. Der Chefredakteur der „Neuen Zürcher Zeitung“, der dort Chefredaktor heißt, hat dem Vernehmen nach seinen Leuten untersagt, noch weiter Glossen zu schreiben. Ob der Befehl schriftlich erging oder informell, wissen wir nicht.

          Ob er mit dem Ersuchen verbunden war, Humor, Ironie und leichtere Bedeutung auch in anderen Zeitungstexten fürderhin zu unterlassen, entzieht sich ebenfalls unserem Recherchebedürfnis. Uns gibt die bloße Kunde, Glossen seien in Zürich nunmehr unerwünscht, nämlich genug Stoff zum Nachdenken. „Meinen Sie Zürich zum Beispiel / sei eine tiefere Stadt, / wo man Wunder und Weihen / immer als Inhalt hat?“, schrieb einst Gottfried Benn, und es mag ihn der Ruf großer Ernsthaftigkeit des Züricher Innenlebens zu diesen Versen getragen haben.

          Nie wieder Leichtsinn in Zürich?

          Meint der Chefredaktor also, Zürich sei eine tiefere Stadt und von dort aus solle, trotz Staatsschreiber Gottfried Keller und Emigrant Thomas Mann, nie wieder Leichtsinn ausgehen? Oder handelt es sich beim Glossenerlass um den Versuch, sich selbst die Arbeit des Herausfindens von in den Texten Gemeintem zu erleichtern, weil jeder Doppelsinn tatsächlich die Gefahr in sich birgt, nicht bemerkt zu werden?

          Die in der Gattung der Glosse verankerte Lizenz zu Witz und Doppelsinn trägt, so betrachtet, zweifellos erheblich zur Belastung von Chefs bei, die mit der Kontrolle von Meinung und Akkuratesse ja ohnehin schon genug tun haben. Wie wohl aber die Leser von Ludwig Börne, Heinrich Heine, Karl Kraus oder Alfred Polgar über den Glossenerlass gedacht haben würden?

          Besteht denn der Witz, eine Zeitung zu lesen, nicht unter anderem in dem Witz, den sie selbst aufzubringen vermag, „Witz“ jetzt einmal in der Bedeutung von Esprit und wit verstanden? Nun, mag der Chefredaktor erwidern, ich habe keinen Börne, keinen Polgar. Hat er also das Glossenwesen wegen Witzigkeitsmangel geschlossen? Doch auf diese Weise wird er auch nie einen Börne, einen Polgar, ja nicht einmal eine Spur davon bekommen. Was doch, bei allen inhaltlichen Wundern und Weihen in Zürich, recht schade wäre.

          Jürgen Kaube
          Herausgeber.

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