Zwei rare Tschaikowsky-Opern : Feind, Liebster, du berührst mich
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Feindesliebe in der „Jungfrau von Orléans“ (Düsseldorf): Lionel (Richard Šveda) hält Johanna (Maria Kataeva) im Arm. Bild: Sandra Then
Soll man Tschaikowsky in Zeiten des russischen Krieges gegen die Ukraine noch spielen? Ja, man muss es sogar. Die Opern „Die Jungfrau von Orléans“ in Düsseldorf und „Die Zauberin“ in Frankfurt liefern starke Plädoyers.
Ein Tschaikowsky-Tsunami rollt gerade über Deutschland hinweg, und das ist auch gut so. Am kommenden Samstag werden in Kassel seine Oper „Pique Dame“, in Kiel sein lyrischer Einakter „Iolanta“ Premiere haben, ein Adventswochenende zuvor sind in Düsseldorf „Die Jungfrau von Orléans“ und an der Oper Frankfurt „Die Zauberin“ neu herausgekommen – samt und sonders Dramen auf Leben und Tod, die deshalb so erschüttern, weil sie auf das setzen, was bei Soldaten, um die Tötungshemmung abzubauen, als Erstes wegtrainiert wird: Empathie. Ruhe und Besonnenheit haben also in den Intendanzen die Oberhand gewonnen, nachdem noch im Frühjahr mancherorts erwogen oder vollzogen worden war, Musik von Peter Tschaikowsky nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine komplett abzusetzen.
„Die Jungfrau von Orléans“ war in Sankt Gallen gar durch das gleichnamige Stück von Giuseppe Verdi ersetzt worden. Dabei muss man sich nach der packenden Inszenierung von Elisabeth Stöppler an der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf fragen: Warum eigentlich? Tschaikowsky schrieb hier eine Antikriegsoper, statt den Opfertod zu heroisieren. Er nahm Friedrich Schillers Tragödie zwar als Vorlage für sein eigenes Libretto, verarbeitete aber auch französische Dramen von Jules Barbier und Auguste Mermet, um in einem wesentlichen Punkt von Schiller abzuweichen: Seine Johanna stirbt nicht in der Schlacht; sie wird verwundbar dadurch, dass sie sich in ihren Feind Lionel verliebt – und er sich in sie. „Ty trogajesch menja“, singt Richard Šveda in Düsseldorf in entwaffnender Wehrlosigkeit: „Du berührst mich“.
Die Liebe ist größer als der Glaube
Er steht als Lionel im Zweikampf der fanatisch leuchtenden Johanna gegenüber, die Maria Kataeva mit Kraft, aber auch entrücktem Glanz singt. Und dann passiert das Wunder, dass beide im Feind plötzlich den Menschen wiedererkennen und zugleich den Menschen in sich selbst. Die im Krieg abtrainierte Tötungshemmung kehrt zurück. Sie können einander nichts mehr antun. Es gehört zu den Erstaunlichkeiten an Tschaikowskys Stück, dass seine Heilige Johanna tatsächlich dem Krieg abschwört und ihrer religiösen Berufung. Die Liebe ist bei Tschaikowsky, ganz biblisch, größer als der Glaube. Die Einheitsbühne von Annika Haller in Düsseldorf – das Innere einer Kirche für alle vier Akte – sagt auch deutlich, dass Religion hier von unterschiedlichen Akteuren nur für deren Zwecke benutzt wird. Elisabeth Stöppler geht als Regisseurin insofern über Tschaikowsky noch hinaus, als sie der Johanna den originalen Tod auf dem Scheiterhaufen – sie wird aus religiösem Fanatismus und politischem Kalkül als Hexe verbrannt – verweigert und sie, nun als Zivilistin, im Krieg umkommen lässt.
Rasend ist das Erzähltempo Tschaikowskys, der schon im ersten Bild so viele Informationen in einem Terzett mit – großartig singendem – Chor verarbeitet, auf umständliche Figurenexpositionen verzichtet und mit seinen an Mozart orientierten Holzbläsersätzen zudem sängerfreundlich orchestriert. Was da von den Düsseldorfer Symphonikern unter der Leitung von Péter Halász zu hören ist, verblüfft in seiner ausziselierten Virtuosität stets aufs Neue und überwuchert doch nie den starken, nuancierten Gesang. Sergej Khomov als arroganter Feigling Karl VII. überzeugt ebenso wie Beniamin Pop in der kleinen Rolle als Bertrand: ein Bass mit erstickten Tränen in der Stimme. Dass Maria Kataeva auf bestem Wege ist, eine der führenden Mezzosopranistinnen Europas zu werden, hat sich seit der Hamburger „Carmen“ angedeutet. Hier singt sie mit einem szenischen wie vokalen Charisma, das einen kommenden Star verheißt.