Zum Tod von Stephen Sondheim : König im Reich der nur bis zur Pause heiteren Muse
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Stephen Sondheim probt „West Side Story“. Bild: The New York Public Library for Perfoming Arts
Mit den Versen für die „West Side Story“ eroberte er den Broadway: Zum Tod von Stephen Sondheim.
Seinen Shakespeare muss man entstauben, aufpolieren und Wort für Wort auswendig lernen – dann liegt einem die Mädchenwelt zu Füßen. Der Ratschlag des Gangsterduos aus dem zweiten Akt von „Kiss Me, Kate“ ist ein Scherz in selbstbezüglicher Original-Broadway-Manier, denn das ganze 1948 uraufgeführte Musical von Cole Porter ist die Umdichtung eines Shakespeare-Stücks, „Der Widerspenstigen Zähmung“. Ein Jahrzehnt später erlebte am Broadway ein noch berühmterer Shakespeare-Stoff seine viel radikalere und noch erfolgreichere Modernisierung: Romeo und Julia auf den Dächern von New York. Vier Männer, die alle Söhne oder Enkel jüdischer Einwanderer waren, hatten die „West Side Story“ erdacht: der Choreograph Jerome Robbins, der Dramatiker Arthur Laurents, der Komponist Leonard Bernstein – und Stephen Sondheim, der die Texte für die Lieder schrieb.
Antagonismus der Großstadt produziert Naturtalente
Die alten Veroneser Streithahnsippen feiern ihre Renaissance als Jugendgangs. Eine doppelte Übergangssituation war den Gassenhauerchancen des Songmaterials günstig: Die Helden der Straßenkämpfe sind erstens Halbstarke und zweitens Neuankömmlinge oder Parkplatzhirsche, deren Väter noch Neuankömmlinge waren. Man imponiert einander mit Kunststücken und tut so, als hätte man sie nie lernen müssen: Der Antagonismus der Großstadt produziert Naturtalente. Das Eingängige ist die Verschmelzung des Formelhaften und des Hingeworfenen, des Durchtrainierten und des Spontanen, des Rollenmäßigen und des Befreiten. Die politische Spielart dieses elastischen Habitus ist die Ehe von Optimismus und Zynismus, ein Patriotismus, der in der Hymne der puerto-ricanischen Mädchen an ihre Adoptivnation durch die perfekte Bündigkeit des sarkastischen Überschwangs aller Desillusionierung voraus ist: „Life is all right in America, / if you’re all-white in America.“
In dem von Bernstein nicht vertonten Song „This Turf is Ours“ wird den Bürgern aus dem karibischen Schutzgebiet das Bürgerrecht ausdrücklich abgesprochen, das sie seit 1917 genossen: „We’re stakin’ a claim, / the boundaries are set out! / The foreigners came – / well, now they’re gonna get out!“
Sondheim, der 27 Jahre alt war, als die „West Side Story“ 1957 Premiere feierte, ist selbst auf der westlichen Seite von Manhattan aufgewachsen, allerdings an deren östlichem Rand auf der Grenze zum Central Park, wo sie noch reicher als die East Side ist. Sein Vater ließ ihn mit seiner Mutter allein, als er zehn Jahre alt war. Zum Ersatzvater wurde ihm Oscar Hammerstein, der zusammen mit dem Komponisten Richard Rodgers Musicals wie „Carousel“ und „The Sound of Music“ schrieb.
Cole Porter soll Rodgers und Lorenz Hart, Hammersteins Vorgänger im Duo mit Rodgers, die Frage gestellt haben, ob für ihre Werke denn tatsächlich zwei Schöpfer nötig seien. Sondheim legte nach „West Side Story“ und „Gypsy“ (1959, Buch Arthur Laurents, Musik Jule Styn) Wert darauf, als Komponist und Textdichter in Personalunion zu arbeiten – wobei er nur die Verse schrieb, nicht die Dialoge. Er sagte, dass das Komponieren der leichtere Teil der Übung sei, wenn man erst einmal die Worte gefunden habe. Nur einer seiner Songs ist in das große amerikanische Liederbuch der sogenannten Standards eingegangen, die man – losgelöst von ihrem dramatischen Kontext – sofort erkennt, wenn die Begleitung angespielt wird: „Send in the Clowns“ aus „A Little Night Music“ (1977).
Sondheims Bewunderer feiern ihn als den Vollender einer Gattung, in der die Lieder gar kein Eigenleben haben sollen, weil sie die Handlung voranbringen und die Charaktere enthüllen. Von seinem Mentor Hammerstein übernahm er den Ehrgeiz, dass es kein Gefühl geben soll, das durch ein Lied nicht ausgedrückt werden kann. So darf man wohl in den monströsen Elternfiguren des Grimm-Musicals „Into the Woods“ (1987) eine Verarbeitung von Kindheitserinnerungen des Dichter-Komponisten vermuten. Mit dem „Happily ever after“, dem englischen „Und wenn sie nicht gestorben sind“, endet nur der erste Teil. Nach der Pause folgt der zweite. Wenige Tage vor seinem Tod erlebte Sondheim noch die New Yorker Neuinszenierung seiner „Assassins“ (1990), einer Revue der Präsidentenkiller, in der sich der Schauspieler John Wilkes Booth, der Mörder Lincolns, sagen lassen muss: „They say you killed a country, John, / because of bad reviews.“ Das hätte Sondheim nicht passieren können: Er war ein Liebling der Kritiker, aber nicht des ganz großen Publikums.
Meister eines im Kern kommerziellen Genres
Ein halbes Jahrhundert lang galt er als der Meister eines im Kern kommerziellen Genres, obwohl kaum eines seiner Stücke einen Gewinn einspielte. Den kanonischen Rang verdankte er den Kollegen, die ihre Aspirationen in seiner Arbeit wiedererkannten und den Techniker verehrten, den unübertroffenen Wortschmied. Dass so viel auf den Wortlaut ankommen soll, ist schon in „Brush Up Your Shakespeare“ ein Witz des Dichters auf eigene Kosten. Porter reimte scheinbar ohne Aufwand „quote with ease“ auf „Euripides“. Sondheim, der Mann der artistischen Bravourstücke, beherrschte auch den dreifachen Reimberger: „But no one dared to query her / superior / exterior.“
Der Kritiker Daniel Mendelsohn nannte Sondheim jetzt den Euripides des amerikanischen Musiktheaters: Als Letzter einer Gattungstradition erweiterte er deren Möglichkeiten, indem er sie infrage stellte, und machte das Ende der Kultur zum Thema, in einer Zeit zynischer Kriege. Beim Aufmarsch der Darsteller in der Farce „A Funny Thing Happened on the Way to the Forum“ (1962, Choreographie Jerome Robbins) wird von einer Schauspielerin gesagt, dass sie am nächsten Abend die Medea spiele. Im dergestalt skizzierten Zwischenreich war Stephen Sondheim der König. Am 26. November ist er mit 91 Jahren in Connecticut gestorben.