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Zum Tod von Michael Gielen : Der Vision eines Elysiums verweigerte er sich

Michael Gielen, 1927 bis 2019 Bild: dpa

Michael Gielen war geprägt von der Kritischen Theorie. Er arbeitete mit den Großen seiner Zeit, führte die Oper Frankfurt zu internationaler Bedeutung, das SWR-Sinfonieorchester machte er zur Uraufführungs-Schmiede. Ein Nachruf.

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          Wie Musik überwältigen kann, das hat der Dirigent Michael Gielen früh erlebt. Anfang zwanzig war er, als Wilhelm Furtwängler nach Buenos Aires kam, um die Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach zu dirigieren. Gielen, der damals als Korrepetitor am Teatro Colón arbeitete, begleitete die Rezitative in dieser Aufführung nicht, wie heute längst wieder üblich, vom Cembalo, sondern vom Klavier aus. Furtwängler hing einem an Beethoven und der Romantik orientierten Stilideal an, das an der Musik Bachs völlig vorbeiging, aber alle im Saal mitriss, auch den jungen Gielen.

          Jan Brachmann
          Redakteur im Feuilleton.

          Er war stets ehrlich genug, sich dieses Mitgerissen-Sein einzugestehen, wie er ihm zugleich misstraute. Auch der bergenden und tröstenden Kraft von Musik wollte Gielen sich Zeit seines Lebens nicht bedenkenlos überlassen. Dass im idealistischen Streben nach Versöhnung als Vorschein einer göttlichen Erlösung ein Moment der Täuschung, gar der Lüge stecke, war ihm, imprägniert durch die Denkfiguren der Kritischen Theorie im Umkreis von Theodor W. Adorno, eine ausgemachte Sache. Konnte man Gielen in den letzten Jahren seiner Tätigkeit als Dirigent zuhören, so erlebte man, beispielsweise in der unvollendeten zehnten Symphonie von Gustav Mahler, dass er sich der Vision eines Elysiums verweigerte. Aus diesem Adagio in Fis-Dur stieg nicht die Utopie einer geheilten Welt auf, auch nicht das nostalgische Adieu an den Glauben, dass es Kunst gelingen könne, solchen Utopien Kraft zu schenken. Man hörte nur noch das kristalline Knirschen des Schutts in der Stille nach der Katastrophe.

          Michael Gielen, am 20. Juli 1927 in Dresden geboren, musste schon als Kind Deutschland verlassen, weil sein Vater, der Theaterregisseur Josef Gielen, mit einer Jüdin, Michaels Mutter, verheiratet war, der Schauspielerin Rosa Steuermann. Sie wäre ohne Zweifel bald von den Nazis deportiert worden. Die Familie emigrierte 1940 nach Argentinien, wo Michael Gielen früh Kontakt zum ebenfalls geflohenen Dirigenten Fritz Busch bekam, dazu eine profunde Ausbildung in Klavierspiel und Komposition. Durch seinen Onkel, den Pianisten Eduard Steuermann, durch sein Umfeld deutscher Exilanten in Argentinien wie den Dirigenten Erich Kleiber, wurde Gielen von Jugend an stark geprägt durch das Denken der Zweiten Wiener Schule, die Musik von Arnold Schönberg, Alban Berg und Anton Webern. Ab 1946 begann er selbst mit dem Komponieren und schrieb während seiner gesamten, langen Laufbahn als Dirigent weiterhin eigene Musik.

          Gielen ging 1950 nach Europa zurück, assistierte an der Wiener Staatsoper Herbert von Karajan, Clemens Krauss, Karl Böhm und konnte zehn Jahre später seine erste Direktionsstelle am königlichen Opernhaus in Stockholm übernehmen. Dort traf er auf einen der größten Regisseure des zwanzigsten Jahrhunderts: Ingmar Bergman inszenierte mit ihm Igor Strawinskys Oper „The Rake’s Progress“ als eine radikalisierte christliche Passion, dass der Komponist, der der Premiere beiwohnte, schockiert vor Begeisterung zur Kenntnis nahm, was engagierte Interpretation an einem Werk offenlegen konnte.

          Vier Jahre später, 1965, brachte Gielen in Köln Bernd Alois Zimmermanns Oper „Die Soldaten“ zur Uraufführung, die bis dahin als unspielbar gegolten hatte. Sein Engagement für neue Musik und sein Interesse an einer Regie, die Widersprüche im Werk selbst ausfindig macht und zur Darstellung bringt, fanden wirkungsmächtig zusammen in Gielens Zeit als Direktor der Oper Frankfurt am Main von 1977 bis 1987. Mit dem Dramaturgen Klaus Zehelein, mit Regisseuren wie Hans Neuenfels und Ruth Berghaus verhalf er damals einer Form von Oper zur Geltung, die bald als „Regietheater“ in die Geschichte eingehen sollte – nur dass sie damals, fernab von reflexartigem Aktualisierungskrampf vor allem auf genauer Lektüre der Libretti und Partituren beruhte, auf einer Entwicklung der Szene aus dem musikalischen Detail. Dadurch stieg Frankfurt von einem Opernhaus mit regionaler Bedeutung in die internationale Liga auf.

          Der Komponist der Oper „Die Soldaten“, Bernd Alois Zimmermann (links), im Gespräch mit dem Dirigenten und musikalischen Leiter Michael Gielen während einer Probe im Kölner Opernhaus
          Der Komponist der Oper „Die Soldaten“, Bernd Alois Zimmermann (links), im Gespräch mit dem Dirigenten und musikalischen Leiter Michael Gielen während einer Probe im Kölner Opernhaus : Bild: dpa

          Gielen war immer davon überzeugt gewesen, dass der große Ausdruck aus der Arbeit am konstruktiven Detail hervorgehen müsse. Diesem Prinzip war seine Arbeit als Dirigent – ob beim BBC Symphony Orchestra in London oder beim Cincinnati Symphony Orchestra – stets unterworfen. Überschwang, Momente des rein Triebhaften, des Hemmungs- oder Schamlosen waren seine Sache nie. Michael Gielen übernahm 1986 die Leitung des SWF Sinfonieorchesters Baden-Baden, das zehn Jahre später zum SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg wurde. Er blieb bis 1999 und baute den Ruf des Klangkörpers als dem wichtigsten deutschen Uraufführungsorchester, besonders bei den Donaueschinger Musiktagen, kräftig aus.

          Unterdessen hatte, ab 1991, eine enge Zusammenarbeit mit der Staatskapelle Berlin und der Staatsoper Unter den Linden sowie mit dem Berliner Sinfonie-Orchester (heute Konzerthausorchester Berlin) begonnen, wo Gielen sich vor allem der Oper des zwanzigsten Jahrhunderts sowie dem symphonischen Repertoire von Beethoven bis Mahler widmete. Michael Gielen lebte in einem schöpferischen Kontinuum. Für ihn war die „Klassik“ kein abgeschlossenes Sammelgebiet, und er gestattete sich programmatisch in seinen „musikalischen Montagen“ immer wieder Interventionen, etwa wenn er – als erster überhaupt – in Ludwig van Beethovens neunte Symphonie Arnold Schönbergs Melodram „Ein Überlebender aus Warschau“ einfügte.

          Aus gesundheitlichen Gründen musste Michael Gielen im Oktober 2014 seine Tätigkeit als Dirigent beenden. Am Freitagmorgen ist er in seinem Haus in Mondsee im Salzkammergut an den Folgen einer Lungenentzündung gestorben. Er wurde 91 Jahre alt.

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