Zum Tod von Gert Voss : Der Dompteur der Dämonen
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Der Schauspieler, der einen Schauspieler spielt, der einen König spielt: Gert Voss in der Garderobe vor einer Aufführung von Thomas Bernhards „Einfach kompliziert“. Bild: Amin Akhtar/laif
Er war der größte Schauspieler Europas, der König, in dessen Bühnenreich die Sonne der Verwandlung nie unterging. Ein genialer Verrückter und Verrücker. Zum Tod von Gert Voss.
Er kam aus der Fremde. Geboren wurde er in Schanghai. Als die Eltern kurz nach dem Krieg mit dem kleinen Kind per Schiff nach Europa zurückmussten, ließen die Amerikaner das Kind an Deck, wo es die schauspielerischen Hollywood-Größen auf einer im Freien installierten Kinoleinwand durch die schwüle tropische Nacht flimmern sah. Als wären sie durchscheinend. Als trügen sie den Sternhimmel in sich oder hätten die Wolken und Winde, die überm Meer aufzogen, in Kopf und Seele. Als kämen hinter ihnen noch ganz andere Wesen zum Vorschein, dunklere, unfassbarere. So hatte das Kind schon früh Umgang mit Dämonen.
Womöglich war dies eine Urerfahrung des Schauspielerwesens Gert Voss. Denn immer, wenn er die Bühne betrat, war es, als breche er auf, als steche er in See und ringe in toller Lust, hohem Schmerz und bittergroßem Witz mit Erscheinungen und Aberwitzigkeiten, die hinter und unter den Hirn- und Herzschalen der Figuren spukten und dort ihr Recht von dem nur einfordern konnten, der fähig war, in unbändigem Gestaltungswillen und rasender Neugier sie beim Schopf zu packen, an ihnen sich abzuarbeiten, sie bis dorthin zu phantasieren und zu träumen, wo sie sich ihm mit Geisterhaut und -haar ganz ausliefern mussten.
Ein verhängnisvoller Zettel
Der junge, mit dem Charme eines herb hübschen Bübchens begabte Eleve, der nach abgebrochenem Anglistik- und Germanistikstudium und privatem Schauspielunterricht über Konstanz und Braunschweig nach Stuttgart kam, präsentierte sich nicht sofort als strahlendes Schauspielerwunderkind à la Horst Caspar oder Oskar Werner. Aber er gab gleich ein großes Versprechen – auf dessen Erfüllung sich alle freuten. Im Stuttgarter Siebziger-Jahre-Ensemble von Alfred Kirchner und Claus Peymann, wo er Schillers Ferdinand, dann aber auch schon Molières Tartuffe, Dorfrichter Adam, Shakespeares Angelo (in „Maß für Maß“) oder Becketts Nagg (im „Endspiel“) war, löste er in einer einzigen unvergesslichen Szene das Versprechen grandios ein.
Der Vorhang ging auf. Vom Bühnenhimmel hingen im Herbst im Deutschland des Jahres 1977 Lianen und Büsche kopfunter. Die Welt schien nicht nur in Alfred Kirchners „Sommernachtstraum“-Inszenierung aus den Fugen. Terror lag über dem Land. Die Totenzahlen wuchsen ebenso wie die Hysterie. Der Stuttgarter Schauspieldirektor Peymann hatte zu allem Überfluss einen Zettel ans Schwarze Brett seines staatlichen Hauses hängen lassen, auf dem zu einer Spende für die Zahnbehandlung einer einsitzenden Terroristin aufgerufen wurde. Die CDU im Stuttgarter Landtag fing an durchzudrehen. (Oberster Scharfmacher war der nachmalige Ministerpräsident und damalige Fraktionsvorsitzende Späth.) Jede Aufführung im Stuttgarter Schauspiel wurde zu einer nervösen Demonstration.
Bannbrecher mit Glanzrolle
Als eben Shakespeares Liebende auf der Bühne anfingen, sich überkreuz in die Herzensquer zu kommen, stiegen im Parkett die Zuschauer-Erregungsrufe wie zischende Raketen. Sie entzündeten sich nicht an der schönen, heiteren Inszenierung, aber nahmen jedes Wort als politischen Anspielungstreibsatz fürs Gezische. Shakespeares Vers-Ende, das „Des Hausherrn Ruh’ empfahl“, wurde mit „Von wegen Ruh’! Weg mit Peymann!“-Gemurr zwischenruferpatzig quittiert. Oberon und Titania wurde es leicht mulmig. Da aber trat Puck, der Zauberer und Liebesverwirrer in Shakespeares Stück, an die Kante des Stegs, der von der Bühne in den Zuschauerraum führte.