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William Forsythe wird 70 : Roboter in der Kunstmaschine

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Unerreichter Avantgardist: William Forsythe, hier 2015 in seiner Ausstellung „The Fact Of Matter“ im Frankfurter Museum für Moderne Kunst Bild: Wonge Bergmann

William Forsythe, der größte lebende Avantgardist der Tanzwelt, hat bahnbrechende Choreographien geschaffen und immer Neues gesucht. Heute wird er 70 Jahre alt.

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          Choreographie muss nicht notwendigerweise mit Tanz verbunden sein. Diesen Satz William Forsythes würden eine ganze Menge Produzenten zeitgenössischen Tanzes so sagen können. In einer Theorie der Ästhetik des Tanzes wäre dies ein legitimer, sinnvoller Satz. Choreographie als in den Raum geschriebene Bewegung kann fern der Möglichkeiten von Tanz gedacht werden. Es ginge dann nicht mehr um eine künstlerische Sprache, eine ästhetische Welt, in der menschliche Körper in kompliziert gestaltete, rhythmisch grundierte Beziehungen zueinander, zur Musik und zum Raum treten. Es ginge nicht mehr um unsere Verbindung zum Tanz als Ritual und Weise der Kommunikation, als Werbung und Wettkampf, als Verkörperung von Schönheit, Ewigkeit, Freiheit, Disziplin, Liebe, kinästhetischer Intelligenz und Hingabe.

          William Forsythe hat diesen Satz gesagt und Werke geschaffen, die ihn beweisen. Er hat die Realität des Tanzes nach seinen intellektuellen und ästhetischen Interessen geformt. Das begründet seinen Ruf in der Tanzwelt, ihr größter lebender Avantgardist zu sein, der Avantgardist an sich, insofern, als er alle voraufgegangenen Choreographen ins historische Dunkel verweist. Das gilt für Europa, am schärfsten für Deutschland. Konsequenterweise hat er in zwanzig Jahren als Ballettdirektor in Frankfurt seine Choreographien geschaffen, unter ihnen ganz großartige, tanztheatralische, bahnbrechende.

          Precious Adams und Aaron Robinson vom English National Ballet tanzen in „Approximate Sonata“ von William Forsythe in London
          Precious Adams und Aaron Robinson vom English National Ballet tanzen in „Approximate Sonata“ von William Forsythe in London : Bild: © English National Ballet/Laurent Liotardo

          Aber er hat kein Repertoire präsentiert. Sogar seine eigenen Werke erlebten keine Wiederaufnahmen, sondern wurden jeweils in überarbeiteten Fassungen präsentiert. Seit er 1984 als Ballettdirektor der Städtischen Bühnen Frankfurt begann, hat er so dem Publikum den Wunsch aberzogen, andere als die Werke Forsythes zu sehen, anderen Tanz als einen soeben erschaffenen sehen zu wollen. Als er dann seinen Abschied nahm und mit einem wesentlich kleineren Ensemble am Bockenheimer Depot und im Festspielhaus Hellerau bei Dresden angesiedelt sein wollte, schloss die Stadt Frankfurt gleich die ganze Sparte. Zuerst brauchte man keinen anderen Tanz als den Forsythes, nach ihm dann brauchte man gar keinen mehr an der Oper.

          Ein Herzschlag inmitten der großen Maschinerie

          Die konkreten Folgen großer Theorien können sehr ernüchternd sein. Fest steht, dass Forsythes beste Arbeit der letzten Jahre zwar auf Tanz basiert, aber keinen enthält. Es handelt sich um eine Choreographie nicht nur ohne Tanz, sondern auch ohne Menschen als Ausführende. In „Black Flags“ von 2014 agieren zwei Industrieroboter aus der Autoproduktion. Ein digitaler Algorithmus steuert ihre Bewegungen, an ihnen befestigte gigantische schwarze Fahnen aus Fallschirmseide vergrößern und verwandeln die Roboterbewegungen in gewaltige, raschelnde, schwarze Stoff-Fluten. „Black Flags“ ist eine grandiose Installation. Ohne Künstliche Intelligenz, wie der Choreograph erklärte, ohne Willen seien diese Roboter doch imstande, Schrecken zu verbreiten, dem allein der Mensch ein Ende bereiten könne.

          Die Roboter auf der Grabplatte des Tanzes. Ist es also von William Forsythe so inszeniert, dass alles am Ende auf ihn als den letzten Choreographen der Geschichte des Tanzes deutet? Seit er als junger Choreograph am Stuttgarter Ballett mit Birgit Keil als Eurydike seinen „Orpheus“ schuf, ist seine große Begabung als Regisseur erkennbar. Heute sind es Roboter, aber in vielen seiner besten Stücke wie „Quintet“, „Kammer/Kammer“, „Woolf Phrase“ oder „Endless House“, in „One flat thing, reproduced“ erbebte das Theater vom Tanz als einem riesigen Herzschlag. Forsythe zeigt, wie klein, wie verletzlich, wie irrgläubig, verrannt und verloren wir alle in dieser großen Maschinerie sind, die wir unsere Kunst, unser Leben nennen.

          George Balanchine, der größte Choreograph des zwanzigsten Jahrhunderts, ließ sich von „Newsweek“ fotografieren, als er etwa so alt war wie Forsythe heute: In Anzug und Krawatte am Boden sitzend, umstehen ihn vierzehn langhaarige junge Frauen, einen Fuß lässig auf die Spitze gestellt. Das war Balanchines Nachwuchs, seine neue, von ihm ausgebildete Generation. Forsythe unterrichtet nur ein paar Wochen im Jahr, und die jungen klassischen Tänzer, die er zuletzt zu Popsongs von James Blake und anderen in Bewegung versetzte, sind nicht seine, sondern die der Pariser Oper oder des Boston Ballet. Der bei Tänzern so beliebte Charismatiker scheut die Bindung. Als Subjekt-Entsprechung zu seinen „Choreographic Objects“ benennt er deren Zuschauer. Heute wird William Forsythe siebzig Jahre alt.

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