Patrice Chéreau 1976 : Wie „links“ war der „Jahrhundert-Ring“?
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Gwyneth Jones als Brünnhilde in der dritten Szene des ersten Aktes der „Götterdämmerung“ 1976 in Bayreuth Bild: Siegfried Lauterwasser
Die Entstehungszeit des „Rings“ und eine von Wertewandel, sozialem Umbruch und ideologischen Grabenkämpfen geprägte Gegenwart ließen sich aufeinander beziehen. Ein kritischer Rückblick in einem Sommer ohne Wagner-Festspiele.
Was die Frage der Politik in Patrice Chéreaus Inszenierung von Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ bei den Bayreuther Festspielen 1976 betrifft, so scheinen sowohl die Einflüsse als auch der Rahmen hinreichend geklärt. Als herrschende Meinung gilt, dass Chéreau durchaus kein Initiator gewesen sei. Er habe, wie Peter Emmerich, der im Dezember 2019 überraschend verstorbene Pressesprecher der Festspiele, einmal schrieb, „auf geniale und hinreißende Weise bestimmte Sichtweisen auf den Ring“ zusammengeführt. Neben den Deutungen von Ulrich Melchinger in Kassel (1970 bis 1974) und Joachim Herz in Leipzig (1973 bis 1976) gehören diejenigen von Hans Neugebauer in Kiel (1970 bis 1972) oder Götz Friedrich an Londons Covent Garden (1974 bis 1976) in diesen Zusammenhang. Damit wird die Inszenierung eingeordnet in jene Repolitisierung, die den Ring im Rahmen massiver gesellschaftlicher Umwälzungen jenseits mythischer und archetypischer Modelle ansiedelte.
Gefragt war nun der „linke“ Wagner, dessen Gesellschaftskritik und antikapitalistische Positionen – samt Rückendeckung durch Bakunin, Feuerbach, Proudhon und andere – zum Gegenstand von Inszenierungen avancierten. Die Entstehungszeit des „Rings“ und eine – gerade in der Bundesrepublik Deutschland – von Wertewandel, sozialem Umbruch und ideologischen Grabenkämpfen geprägte Gegenwart ließen sich aufeinander beziehen. Die Diagnose von Wagners Geist aus linken Händen und diejenige, nach der Chéreaus „Ring“ etwas Summarisches anhaftete, gehören zusammen. Sie finden sich auch im englischen Sprachraum.
Doch angesichts solcher Darstellungen drängen sich bei der Filiation der Quellen, darunter erstmals zugängliche Dokumente aus „Zustiftung Wolfgang Wagner“, mehrere Fragen auf: Wie kann es sein, dass die Inszenierung im Zuge ihrer ideologischen Eingemeindung sowohl als Pionierleistung wie auch als „Schlussstein“ gewertet wurde? Mit dem Hinweis auf einen zeitverzögerten rezeptionsgeschichtlichen Stand der Bayreuther Festspiele ist der Dissens nur unzureichend erklärbar. Warum wird immer wieder George Bernard Shaw, der Ahnvater einer „linken“ Wagner-Deutung (1898), ins Spiel gebracht, wo sich Chéreau doch gerade von Shaw distanzierte? Lässt sich als Kern des „Jahrhundert-Rings“ eine marxistische Deutung ausmachen, obwohl der Regisseur immer wieder die Wandlungen betonte, von denen die Entstehung der Tetralogie geprägt war?
Auch mit dem NS-Reich nicht passé
Solche Fragen betreffen die Verknüpfung von ästhetischem Produkt und ideengeschichtlichem Hintergrund, die bei diesem „Ring“ besonders eng war und seinen Rang begründete. Sie führen zu einer Figur, auf die Chéreau selbst hingewiesen hat, deren zentraler Einfluss jedoch kaum untersucht wurde: André Glucksmann. Der Philosoph, sieben Jahre älter als Chéreau, war jüdischer Herkunft und wurde eher zufällig in Frankreich geboren, wohin seine Eltern nach Jahren des Widerstands gegen das NS-Regime aus Deutschland geflohen waren. Als die 68er-Bewegung in Frankreich um sich griff, trat er der „Gauche Prolétarienne“ bei und erklärte sich zum Maoisten. Für die deutschen Linken und die Studentenbewegung galt er lange als Bruder im Geiste. Glucksmann war jedoch – und das ist für den Bayreuther „Ring“ entscheidend – als Zeitkritiker durchaus wandelbar. Insbesondere Alexander Solschenizyns ab 1973 in mehreren Bänden veröffentlichter „Archipel Gulag“ ließ ihn linken Totalitarismus reflektieren. Als geistige Heimat musste die Linke danach neu definiert und auch abgegrenzt werden, was Glucksmann mit seinem Buch „Köchin und Menschenfresser – Über die Beziehung zwischen Staat, Marxismus und Konzentrationslager“ versuchte.