Konzerte für Berliner Senioren : Musik geht zu den Menschen
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Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, Charity-Auftritt am 19.5.2020 Bild: Vollvincent
In der Musik geht es um mehr als Exzellenz: Das Berliner Rundfunk-Sinfonieorchester tröstet Senioren mit Freiluftkonzerten im Kammermusikformat.
Achtzehn Grad, sechzig Prozent Luftfeuchtigkeit, Windstärke drei bis vier, kein Regen vorhergesagt: Das könnte gehen, aber Wäscheklammern müssen sein, um die Noten an den Pulten festzuklemmen. Freiluftmusik hat ihre eigenen Gesetze. Am Ende des knapp einstündigen Programms machen sich doch ein paar Blätter selbständig und müssen wieder eingefangen werden. Also wird die Schostakowitsch-Polka noch ein zweites Mal präsentiert – wonach die Hörer nicht, wie gewohnt, von drinnen nach draußen gehen, sondern umgekehrt zurück in die Räume ihrer Pankower Seniorenresidenz: ungefähr fünfzig graue oder kahle Köpfe, die zusammen reichlich viertausend Lebensjahre repräsentieren. Christian Paelecke, der Leiter des Hauses, erzählt, dass die älteste Hörerin, die da eben mit großer, aufmerksamer Entspanntheit Bach, Dvořák und Schostakowitsch gehört hat, 98 war.
Zurück bleiben, zwischen Hecken und blühenden Rotdornbäumen, Nadine Contini, Maximilian Simon, Hans-Jakob Eschenburg und Vladimir Jurowski: drei Streicher und der Chefdirigent des Berliner Rundfunk-Sinfonieorchesters. Wobei Letzterer hier, abweichend vom Gewohnten, sitzend inmitten seiner Musiker zu erleben war, am selbstinstallierten E-Piano. Hinterher wird er, dessen Laufbahn schon einige Open-Air-Konzerte sah, bilanzieren, dass dieser Auftritt auch technologisch eine neue Erfahrung war: mit einem erstmals praktisch getesteten Noten-Laptop. Dem immerhin konnten die Westwind-Böen nichts anhaben.
Trost und Ermunterung
Und wenn schon: „Wir alle haben“, sagt Jurowski und wird dabei noch ernster als während des Programms, „Menschen in unserer Umgebung – Eltern, Großeltern –, die ein eingeschränktes Leben führen, manche in Heimen wie diesem hier. Oft, glaube ich, kann Musik in solchen Lebenssituationen ein großer Trost und eine Ermunterung sein. Ich hatte eine Großmutter, die kaum mehr kommunizieren konnte. Aber wenn ich sie besuchte und ihr Tschaikowsky-Suiten vorspielte, merkte man, dass etwas zurückkam, dass sie Teile ihres alten Lebens wiederfand. Wir Musiker streben jahrzehntelang nach maximaler Exzellenz, das ist ja auch richtig, aber eben nicht das einzig Wichtige. Musik ist Menschlichkeit, und diese Menschlichkeit zählt am Ende mehr als alle Brillanz. Ich wünschte mir, wir behalten diese Erfahrung, wenn diese schwierigen Zeiten vorbei sind.“
Diese schwierigen Zeiten: Jeder Musiker, jedes Ensemble versucht sich anders damit zu arrangieren, dass der direkte Kontakt zu den Hörern nur sehr eingeschränkt möglich ist. Manche vertiefen sich in Repertoire, für das sonst nie Zeit blieb, viele bauen Video-Brücken und hoffen, wenigstens einen Teil der Kommunikation zu bewahren. Im Berliner Rundfunk-Sinfonieorchester haben sie den kürzestmöglichen Weg gesucht: weiter unmittelbar vor dem Publikum zu musizieren, wenn auch auf Distanz und im kammermusikalischen Rahmen – und dabei vielleicht sogar Hörer zu erreichen, die sonst oft kaum mehr eine Chance auf direkte Begegnungen mit den Künstlern hätten. So sind die Innenhöfe und Gartenanlagen von Krankenhäusern und Seniorenheimen zu Spielstätten geworden, und statt der Sitzreihen im Saal gibt es jetzt Fenster, Balkons oder – wie hier in Pankow – Bänke und Stühle auf der Wiese.
Fast fünfzig solcher Veranstaltungen haben die Rundfunkmusiker seit dem Shutdown angeboten, in Besetzungen vom Duo bis zum Sextett. Rudolf Döbler, Flötist im RSB, initiierte die Aktion, an der sich inzwischen mehr als vierzig Kollegen beteiligen, und wirkt als Logistiker und Koordinator. Zu Beginn suchte er per Google Maps und über die Websites der Einrichtungen passende Kandidaten, mittlerweile könnte die Nachfrage allein tragen. Die Deutsche Oper hat Ähnliches vor, und an anderen Orten gibt es ebenfalls vergleichbare Initiativen. Die rechtlichen wie hygienischen Regularien müssen trotzdem für jedes Konzert neu vereinbart werden, es gab auch schon ein allgemeines Fiebermessen vor dem Zugang. Doch inzwischen hat sich hier Routine eingespielt. Und wenn man zum Beispiel den langsamen Satz aus Johann Sebastian Bachs Konzert für zwei Violinen, diesem wundersam traurigen Schäferstück, zwischen Vogelgezwitscher und fernwehträchtigen Frühlingswinden hört, kontrapunktiert von den selten gewordenen und womöglich letzten nach Tegel einrauschenden Fliegern – meint man nicht vielleicht, dass solche Musik eigentlich gar nicht besser plaziert sein kann als an einem solchen Ort in solchen Zeiten?