Streit im Stuttgarter Ballett : Der teuerste Tempowechsel in der Geschichte des Tanzes?
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Warum der Prozess des Stuttgarter Balletts essenzielle Machtfragen aufwirft. Bild: AFP
Wenn Fragen von Kunst zu Fragen von Macht und Willkür werden: Das Stuttgarter Ballett muss vor Gericht klären, was sein Dirigent darf und was nicht. Und vor allem, wer darüber entscheidet.
Selbstgerechte Genies sind in der Kunstwelt nichts Ungewöhnliches. So lautete etwa Rudolf Nurejews Kritik am Corps de ballet nach der Premiere des 3. Akts von „La Bayadère“ in Covent Garden, in der berühmten Schattenszene hätten seine Kolleginnen, die 32 wunderschönen, in knöchellangen Tutus ein ums andere Mal in eine tiefe Arabesque Penchée sinkenden Ballerinen, getanzt wie „Kühe in Holzschuhen“. Als das Royal Ballet damit wenig später an der Metropolitan Opera in New York gastierte, landete Nurejew nicht nur nach der 6. Tour en l’air so unsanft auf einer der ihn anmutig umstehenden Tänzerinnen, dass diese in die Gasse stürzte, sondern streifte beim Abgang eine andere versehentlich so hart mit dem Arm, dass sie Prellungen auf dem Rücken davontrug.
Längst nicht alle, die einen solchen derben Umgang pflegen, sind Genies. Von dem ehemaligen Tänzer und Stuttgarter Ballettdirektor Reid Anderson ist bekannt, dass sein Ballettchef John Cranko sagte: „Reid can’t dance.“ Man muss auch kein guter Tänzer gewesen sein, um ein guter Ballettdirektor zu werden. Doch in einer Hinsicht wird es kritisch, wenn man kein Genie und gleichzeitig selbstgerecht ist: in der Arbeit an der Kunst. Offenbar darum geht es bei dem Vorgang, der jetzt in der ersten Anhörung vor dem Bühnenschiedsgericht landete.
Die Macht einer anrüchigen Geste, die keine ist
Der Dirigent Mikhail Agrest, seit etwas mehr als einem Jahr mit einem Dreijahresvertrag als Musikalischer Direktor des Stuttgarter Balletts engagiert, klagte gegen die im vergangenen Jahr ausgesprochene außerordentliche Kündigung durch das Stuttgarter Staatstheater. Das Gericht bot abschließend an, den Parteien einen Vergleichsvorschlag zu unterbreiten. Die Anhörung hatte zuvor deutlich gemacht, dass seitens des Dirigenten keine Pflichtverletzung vorlag und Kündigungsgründe nicht auszumachen wären. Doch was war geschehen? Wie im Sitzungssaal vorgetragen wurde, leitete Reid Anderson am 13. Oktober eine Bühnen-Orchesterprobe von John Crankos Ballett „Onegin“. Laut Auskunft des Theaters war Anderson zum ersten Mal seit seinem Abschied 2018 als Gast am Haus und arbeitete an jenem Tag also auch erstmals mit dem Dirigenten Agrest zusammen. Es kam zu Diskussionen.
Im ersten Akt bat Anderson Agrest, langsamer zu dirigieren, im dritten Akt forderte er ihn auf, das Orchester schneller spielen zu lassen. Der Dirigent versuchte, ihm zu erklären, warum er die Tempi wählte, wie er sie wählte. Als er merkte, dass ein Gespräch darüber unerwünscht war, wurde er bei einer Geste des Unwillens beobachtet, bei der man die Hand mit dem Handrücken nach außen hebt und leicht schüttelt, während der Daumen von innen gegen die zusammengelegten Finger drückt, so eine Art italienischer Stoßseufzer: „Mamma mia!“ Wie der Anwalt des Landes Baden-Württemberg bei der Anhörung zugestand, handelt es sich dabei um „keine anrüchige Geste“.
Die Szene im Theater gipfelte in Reid Andersons Satz zum Dirigenten: „You do what I want.“ Das, so hob der Anwalt des Dirigenten bei der Anhörung hervor, sei jedoch die Frage. War Anderson weisungsbefugt gegenüber Agrest? Wohl kaum, zumal der jetzige Ballettdirektor, Tamas Detrich, auch in der Probe saß, allerdings ohne einzugreifen.
Wenn Kunst zur Machtfrage wird
Nun hätte es, wie Agrests Anwalt weiter ausführte, durchaus die Möglichkeit gegeben, die Sache anschließend beizulegen: im Austausch künstlerischer Argumente. Stattdessen erfolgte zwei Tage nach dem Vorfall, am 15. Oktober 2021, die außerordentliche Kündigung. Am 14. Oktober hatte Agrest noch eine Ballettvorstellung dirigiert, am 15. sah er sich fristlos entlassen – wie Obfrau Fink in der Anhörung hervorhob: „Die außerordentliche Kündigung ist das schärfste Schwert.“ Am Ende bat sie Agrests Anwalt, eine „Schätzgröße für die geschädigte Reputation“ seines Klienten aufzurufen.
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JETZT F+ LESENEs sieht ganz danach aus, als käme es zu einem Vergleich, bei dem dann dem Kläger eine Entschädigung in eventueller Höhe von 200.000 Euro zu zahlen wäre. So viel müsste das Staatstheater Stuttgart, also das Land Baden-Württemberg, für einen umstrittenen Tempowechsel zahlen, weil Reid Anderson es an einem Tag, an dem er mit einem Gastvertrag ins Haus kommt, um eine Probe zu leiten, nicht hinnehmbar findet, dass der Dirigent mit ihm an zwei Stellen der Partitur die Tempi diskutieren möchte. Worauf er zu dem Dirigenten sagt: „Du tust, was ich will.“ Hatte er vergessen, dass er nicht mehr Ballettdirektor ist, sondern Gast-Coach?
Tantiemen zahlen für Selbstgerechtigkeit
Die juristische Lösung ist das eine. Das andere sind die Fragen, die ein solcher Vorfall aufwirft. Agrest hatte seit 2013 zunächst als Gast und dann seit Vertragsbeginn insgesamt etwa 25 Ballettvorstellungen erfolgreich dirigiert. Die Schuld an den deprimierenden Stuttgarter Zuständen, wo ein Mann aus dem Ruhestand zurückgeholt wird, der künstlerische Arbeit als Machtfrage versteht, muss sich das Land Baden-Württemberg infolge verfehlter Personalentscheidungen selbst zuschreiben. Es könnte gar nicht zu solchen Szenen kommen, wenn nicht eine Tatsache immer wieder unter den Teppich gekehrt würde. Crankos Erbe, jene Werke aus zwölf Jahren als Stuttgarter Ballettdirektor, gehört zwar Reid Andersons langjährigem Lebenspartner und heutigem Ehemann, dem ehemaligen Sekretär Dieter Graefe.
Nirgendwo auf der Welt darf Crankos Oeuvre ohne Graefes Zustimmung aufgeführt werden und ohne dass er über Besetzung, Einstudierung, Kostüme und Bühnenbild entscheiden kann. Tantiemen fließen bislang, obwohl Graefe vor kurzem endlich eine Stiftung gründete, bislang nur an ihn selbst. Fein, kann man jetzt sagen, er ist eben der Erbe. Einzig und allein Stuttgart dürfte aber jedes Ballett Crankos aufführen, ohne Graefe zu fragen oder Anderson zu beschäftigen – wenn man denn wollte. Selbstgerechtigkeit macht sich vor allem dann breit, wenn sie die Umgebung des Selbstgerechten hinnimmt.