Hamburger Elbphilharmonie : Was das junge Publikum sehen und hören will
- -Aktualisiert am
Alan Gilbert in der Elbphilharmonie Bild: dpa
„Visions“ heißt die neue Biennale für Musik des 21. Jahrhunderts in der Hamburger Elbphilharmonie. Sie zieht ein großes, durchaus junges Publikum an.
Große Publikumsprobleme scheint die Hamburger Elbphilharmonie nach wie vor nicht zu kennen. „Wir haben in etwa wieder den Abonnentenstand von 2019 erreicht“, sagt ihr Intendant Christoph Lieben-Seutter im Gespräch mit der F.A.Z.; der Corona-Knick sei überwunden. Im Januar soll die Durchschnittsauslastung bei 95 Prozent gelegen haben, auch wenn das Kaufverhalten viel kurzfristiger ausfalle als vor der Pandemie. Das mache das Kalkulieren zwar schwieriger, zeitige aber auch schöne Überraschungen: „Wir beobachten ein neues, durchaus jüngeres Publikum im Haus.“
Die Stichprobe bestätigt es: Zu den Eröffnungskonzerten von „Visions“, der neuen Biennale für Musik des 21. Jahrhunderts, ist der große Saal gut gefüllt. Mehr als achtzig Prozent der Stühle sind besetzt, darunter von vielen Leuten unter vierzig, die sich die zwei Euro für die Garderobe lieber sparen und ihre Anoraks zwischen die Waden knüllen. Eine neue Umstandslosigkeit hat hier Einzug gehalten, der am konzentrierten Zuhören mehr liegt als am Drumherum. Es ist ein schönes Bild, das Hoffnung macht.
Denn geboten wird, was Anstrengung kostet: „to an utterance“, das Konzert für Klavier und Orchester von Rebecca Saunders, beim Lucerne Festival uraufgeführt, danach beim Musikfest Berlin in deutscher Erstaufführung zu erleben, ist Musik, die nicht nur die Spieler angreift und auszehrt. Der Solist Nicolas Hodges schützt seine Ballen mit Halbhandschuhen, um sich bei den vielen Clustern und Glissandi nicht die Haut von den Händen zu schaben. Saunders hat dem Klavier konsequent verweigert, was es der Tradition nach ausmacht: ein Resonanzinstrument zu sein, das der Obertonreihe folgt und auf eine wohltemperierte Tonalität ausgerichtet ist.
Stattdessen nun: Glissandi und Cluster, gern mit ganzen Unterarmen, von denen die Fixierung auf den klaren Ton zerschossen wird in Richtung Geräusch. Eine besondere Pedaltechnik sucht den reduzierten Nachklang nach dem trockenen Abreißen der angeschlagenen Töne. Das Lucerne Festival Contemporary Orchestra unter der Leitung von Sylvain Cambreling beweist seine ganze Brillanz darin, diese Technik aufs Orchester zu übertragen: rasende Crescendi durch mehrere Register, die in Akzente hineinschießen, jäh abreißen und reduziert nachklingen im Ächzen des Kontrafagotts oder im verschreckten Zittern des Akkordeons.
Es ist Musik pausenloser Aggression, Musik der Droh- und Vertreibungsgesten, der nur von Alarmsignalen oder Zäsuren des Kollabierens Einhalt geboten wird. Die Befriedung am Ende entsteht nicht durch Verständigung zwischen Klavier und Orchester, sondern durch Resignation, Vereinsamung und Ermüdung.
Die Idee zu „Visions“ fassten Lieben-Seutter und der Chefdirigent des NDR- Elbphilharmonie-Orchesters, Alan Gilbert, vor bald vier Jahren gemeinsam. Gilbert hatte Ähnliches schon in seiner Zeit als Chefdirigent der New Yorker Philharmoniker ins Leben gerufen. „Ich suchte nach einer Entsprechung zu den großen Ausstellungen in der Bildenden Kunst“, erzählt er, „etwas wie die Art Basel für die Musik, eine hochgradig kuratierte, durch Experten getroffene Auswahl dessen, was es an neuen Trends der Gegenwartsmusik weltweit gibt. In New York konnte ich das immerhin zweimal machen. Nach meinem Weggang wurde die Biennale sofort eingestellt. Dann wollte ich das hier in Hamburg wieder aufgreifen.“
Oft nur Pflichtübung
Eigentlich sei er kein Freund von sogenannten Neue-Musik-Konzerten, gesteht er. Die Orchester empfänden die Beschäftigung damit oft rein als Pflichtübung, versammeln dann mehrere Werke in einem Konzert, um die ungeliebte Arbeit dann an einem Termin erledigt zu haben. Die Integration der Gegenwartsmusik in die traditionellen Programme des philharmonischen Betriebs bleibt für Gilbert wie für Lieben-Seutter, der einst bei Wien Modern seine Laufbahn als Musikmanager begonnen hatte, eine wichtige Aufgabe.
Aber auch dabei empfindet es Gilbert als unbefriedigend, dass den lebenden Musikern oft nur die Position des Eröffnungsstücks oder aber des Solokonzerts vor Ravels „Boléro“ oder Beethovens Siebter zugestanden werde. Es ist heute in der Tat für Komponisten schwierig, Aufträge für Orchesterwerke zu bekommen, die über ein Zehn- bis Fünfzehn-Minuten-Stück hinausgehen oder kein Starvehikel für berühmte Solisten sind. Die Musica Viva beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks bietet da eine der wenigen Ausnahmen.
„Visions“ will zwar Uraufführungen zulassen, sich aber nicht darauf konzentrieren. Es gehe vielmehr darum, Zweit- und Drittaufführungen zu ermöglichen und die Repertoirebildung damit zu fördern. Lieben-Seutters ursprüngliche Idee war es, die deutschen Rundfunkorchester zu einer solchen Biennale für die Musik des 21. Jahrhunderts zu versammeln, was sich logistisch als zu aufwendig erwies.
Die erste Ausgabe von „Visions“, die noch bis zum 12. Februar dauert, war eigentlich für 2021 geplant. Corona erzwang die Verschiebung. Neben dem NDR-Elbphilharmonie-Orchester und der Radiophilharmonie des NDR Hannover hat sich immerhin noch das WDR-Sinfonieorchester eingefunden, dazu kommen das Ensemble Resonanz, das Ensemble Modern und das Ensemble Intercontemporain. Dass mit Rebecca Saunders, Sofia Gubaidulina, Isabel Mundry, Anna Thorvaldsdóttir und Kaija Saariaho Frauen fast paritätisch das Programm neben Männern prägen, sei keine Absicht gewesen, versichert Lieben-Seutter. Das habe sich von selbst ergeben.
Auch das Eröffnungsstück, „Flügel“, stammt von einer Frau, der Deutschschwedin Lisa Streich. Gilbert erzählt vor der Uraufführung mit seinem Orchester, er fände darin Klänge, die er nie zuvor gehört habe. Man erkennt danach freilich verdutzt den „Rittertanz“ aus Sergej Prokofjews „Romeo und Julia“ wieder. Nur ist es mit dem Wiedererkennen auch nicht getan, weil Streich – so sagt sie – schon als Kind überlegt habe, welche Musik wohl zwischen den bekannten Klängen stehen könnte. Und so kommt Eigenes, meist Luftig-Zartes dazu. Ihre „Flügel“ gleichen einer Übermalung. Die Idee mag nach hundert Jahren Moderne so originell nicht mehr sein, ist aber im Ergebnis immer noch so verstohlen heiter wie das Hercule-Poirot-Bärtchen, das Man Ray einst über Mona Lisas Oberlippe tuschte.