Tiroler Festspiele : Liesl Karlstadts schönste Zeit
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Ein Himmel voll herabsinkender Kreuze: Szenenbild von „Stillhang“ auf der Bühne der Tiroler Festspiele Bild: Elia Roman
Drastisch der Text, schillernd die Musik: Die Tiroler Festspiele zeigen die Uraufführung der Oper „Stillhang“ des jungen Komponisten Christian Spitzenstaetter.
Erl, Ende Dezember: Im Stiegenhaus der Pension „Blauer Gamsbock“ lebt die Tradition der Gebirgsjäger und Schützenvereine in Form von handkolorierten Stichen fescher Mannsbilder mit ihrem Schießgewehr fort. Auf der Bühne des Festspielhauses Erl im Tiroler Inntal wird diese Geschichtspflege bis in die Nazi-Zeit verlängert. Schmutzige Soldatenmäntel, ein Kopfverband, irgendwann aber auch ein dralles Dirndl.
Für die Uraufführung der Oper „Stillhang“ des jungen Komponisten Christian Spitzenstaetter hätte es wohl keinen passenderen Ort geben können als die nach den Querelen um Intendant Gustav Kuhn interimistisch von Andreas Leisner geleiteten Tiroler Festspiele Erl, zu deren Wintersaison ein ebenso mutiges wie abwechslungsreiches Programm aufgelegt worden ist. Das Libretto zu „Stillhang“ stammt vom Schauspieler und Regisseur Klaus Ortner, der – nach mehreren gemeinsamen und meist eher ungewöhnlichen Projekten – mit Isabel Karajan ein Stück über Episoden aus dem Leben von Liesl Karlstadt auf die Bühne bringen wollte. Die wollte bekanntlich mehr sein als „nur“ die komische Partnerin von Karl Valentin. Nach seiner Trennung von ihr stürzte sie in eine tiefe Krise, unternahm einen Selbstmordversuch und kam für längere Zeit in psychiatrische Behandlung. Dass sie ab 1941 über zwei Jahre bei einer Gebirgsjägereinheit auf der Ehrwalder Alm nahe der Zugspitze „diente“, ist hingegen nur wenig bekannt, wird freilich im Valentin-Karlstadt-Musäum München thematisiert, das mit einer informativen Ausstellung nun auch in Erl gastiert.
Als „die schönste Zeit ihres Lebens“ bezeichnet
Eine Komikerin im Krieg, eine Selbstmörderin unter lauter zum Töten gedrillten Soldaten, eine „Verrückte“ inmitten mörderischer Militärs – das ist der Stoff, aus dem dieser keineswegs leise „Stillhang“ ist. Die Oper beginnt allerdings mit einem stummen Moment, den Christian Spitzenstaetter als Komponist und Dirigent in Personalunion in die Luft zaubert. Auch danach setzen die Instrumentalisten des von ihm initiierten Komp.art-Orchesters eher zaghaft ein, untermalen, illustrieren, forcieren die Handlung auf der sich plötzlich erhebenden Bühne des Ausstatters Peter Lorenz, um Gebirgslandschaften assoziieren zu lassen. Der Himmel darüber ist voller Kreuze, hölzernes Bauerngerät, das sowohl für lokale Bezüge steht als auch für die ständige Nähe zum Tod. Am Ende des knapp zweieinhalbstündigen Abends lagert es direkt auf der Bühne, einem riesigen Soldatenfriedhof gleich. Was dann noch folgt, sind wiederum stille Szenen, von einer sprachlosen Liesl Karlstadt mit verzweifelten Mundbewegungen vorgetragen. Die gescheiterte Selbstmörderin hat mitten im Hochgebirge in menschliche Abgründe geschaut und dort nicht nur den sadistischen SS-Hauptmann und menschenverachtenden Major gesehen, der die Truppe in den sicheren Tod schickt.
Die wahre Liesl Karlstadt hat ihre Zeit bei den Gebirgsjägern tatsächlich als „die schönste Zeit ihres Lebens“ bezeichnet, hier fand sie offenbar eine ganz eigene Form von Menschlichkeit, indem sie von den Soldaten aufgenommen und gegenüber den Vorgesetzten gedeckt wurde. Als „Obergefreiter Gustl“ stand sie als Verwandlungskünstlerin ihren Mann. Die Ausbildung zur Mulitreibergehilfin vermochte sie offensichtlich von ihrem Lebensüberdruss zu heilen.
Absurdes Theater, bittersüß und drastisch
Ortner findet dafür skurrile Szenen, die von Spitzenstaetter eindrucksvoll musikalisiert werden. Da geht es mal jazzig zu, wird mal Wagner zitiert, werden Stimmung wie Handlung nachvollziehbar kommentiert. Voller Umsicht führt der 1994 geborene Komponist das percussionslastige Ensemble von nur einem Dutzend Musikerinnen und Musikern durch den Abend und bietet den acht Darstellern vom Bass bis zum Countertenor sowie der einzigen Darstellerin im Titelpart schroffe Klanglandschaften mit brisanten Höhen und Tiefen.
Isabel Karajan gibt der Liesl-Gustl ganz eigenes Format. Eingangs zetert sie: „Ich bin nicht krank, ich bin nur tot“, wähnt sich von Engeln umgeben und will keinen Arzt an sich heranlassen. Mehr und mehr erkennt sie dann die Kämpfer um sich herum, die eigentlich noch Knaben sind, und will in mütterlicher Nähe möglichst unerkannt bei ihnen bleiben. Isabel Karajan schauspielert voller Inbrunst, spricht mal Dialekt, mal geradezu dadaistisch, kombiniert krude Wortschöpfungen wie „Menschenfress-SSler“ mit einem Leichenschmaus mit „Gebirgsjägerschnitzel“: „Die Bav-Arier-Kannibalen verzehren nun vor ihren Augen Sauerkraut und Erdäpfel!“ Obendrein singt sie sogar und meldet sich zur schließlich erfolgreich bestandenen Mulitreiberprüfung.
Ihre Einsicht, dass die Mulis „lebende Kriegsmaschinen“ sind, die Maschinengewehre tragen und unschuldigen Menschen den Tod bringen, kommt spät, aber sie kommt. Vorher probt sie noch für ein von Karl Valentin nun plötzlich wieder gewünschtes Gastspiel in München eine schnöde Partie in ruckelnden Reimen: „Nennt man die gute, alte Liesl-Zeit / wie wird da jedes Herz so weit (...) Kein Mensch würd von der Karlstadt denken, / dass sie sich wollt vergiften und ertränken.“ Auch diese derbe Komik steht der Karajan, deren Gustl aber im Gebirge bleiben und deswegen den Part an einen theaterbegeisterten Soldaten weitergeben will.
Dieser „Stillhang“ ist absurdes Theater, bittersüß und drastisch. Schillernde Musik auf einen bizarren Text, von einem durchweg höchst engagierten Personal gespielt und gesungen. Es wäre schade, würde es bei dieser einzigen Vorstellung im Festspielhaus Erl bleiben.