Uraufführung Peter Handke : Läppisches, lustloses Wegperformen
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Vorgeführt: Martin Schwab in „Zwiegespräch“ von Peter Handke Bild: Susanne Hassler-Smith
Ein triumphierender Text, eine desinteressierte Inszenierung: Die Uraufführung von „Zwiegespräch“, der neuen dramatischen Poesie von Peter Handke, am Wiener Akademietheater, ist ein Skandal.
Für wen? „Für den, den’s angeht.“ Die übliche „Altenstory“? Nein. Nicht die übliche. Nicht die Verfallsgeschichte als sentimentales Thema, eingerahmt von Vergesslichkeit und Wiederholung. Im Gegenteil: Unbändige Unruhe. Das entscheidende Kennzeichen des Erfahrenen, der umgetrieben wird von der Furcht, so vieles noch nicht berichtet zu haben von dem, was ihm geschehen ist. Das Alter als ständig ausbrechende Ungeduld des Herzens. Als Stadium eines unablässigen Erzählens. Wenn die Aussichten ausbleiben, fangen die Rückblenden an – wiederkehrendes Leitmotiv der Poesie. Anthropologisches Ritual, bei dem die Kinder den Eltern und die noch Kleineren den noch viel Älteren zuhören. Staffelübergabe. Allerdings braucht das einen aufmerksamen Empfänger, sonst fällt der Stab in den Sand.
„Großväterliche Begebenheiten“ bilden den Inhalt von „Zwiegespräch“, dem neuen Theaterstück von Peter Handke. 67 Seiten, keine Rollenangabe, keine szenischen Vorgaben. „Soll das doch wieder ein Dramatisches Gedicht werden?“ Ja, durchaus: ein Stück dramatischer Poesie, wie schon zuletzt bei „Zdeněk Adamec“, dem Text über den jugendlichen Selbstmörder, der sich eines Tages auf dem Prager Wenzelsplatz aus Protest gegen den Zustand der Welt verbrannte. Jetzt also die auflodernden Flammen des Alters, genau das andere Extrem gewissermaßen zum Frühvollendeten: Jetzt geht es um den rastlosen Lebenswillen von Unermüdlichen. Bis nicht alles erzählt ist, darf von dieser Welt kein Abschied genommen werden: „Wir haben kein Recht auf Ruhe. Unsereiner hat auf Ruhe kein Recht.“
Ihr Lieblingsspiel: Die Erinnerung
Man stellt sich das so vor: Ein alter und ein etwas jüngerer Mann sitzen auf zwei Plastikstühlen am Rande der Stadt. Irgendein Vorgarten, irgendeine Maulwurfsidylle. Sie schauen vergnügt ins Leere und lassen die Erlebnisse des Tages vorüberziehen. Nicht das traurige „noch einmal“ bestimmt ihre Rede, sondern ein gutmütiges, fast keckes „schon wieder“. Zwei Sprachbegeisterte, zwei „alte Freunde“, die weder ihre Freundschaft noch ihr Alter herausstellen müssen, stattdessen mit Lust ihr Lieblingsspiel beginnen: Die gemeinsame Erinnerung. Sie unterbrechen sich, sie fallen einander ins Wort, sie fragen und ermahnen sich, und vielleicht legt der eine dem anderen an einer Stelle sogar den Arm um die Schulter und tippt ihm mit dem Zeigefinger anerkennend auf die Brust.
Oder so: Zwei Kinder haben sich als Greise verkleidet. Liegen auf irgendeinem Dachboden und spielen sich das Altsein vor. Sie haben sich genau abgeschaut, wie die Reminiszenzen bei ihren Großvätern kommen und gehen, wie sie von Erinnerungen ergriffen werden und mit verklärtem Ausdruck von früher erzählen. Mit gekonntem Ausdruck geben sie diesen Gestus wieder, übermütig, aufgekratzt suchen sie nach den richtigen Worten, obwohl sie doch immer gleich alle parat haben. Imitatoren des Altertums. Aus dem bitteren Endspiel machen sie eine lustige Nummer.
Oder eben doch so: Ein altes Liebespaar verbringt auch jetzt noch zusammen die Zeit. Sucht nach Gemeinsamkeiten, summt die alten Lieder. Und mitten in dem Wirrwarr der zitierten Melodien und abschweifenden Berichte plötzlich eine ernst gemeinte Frage, als erwartete man vom anderen „trotzdem“ noch eine Überraschung.
Hoch der menschliche Trotz
Trotzdem – im „Zwiegespräch“ ist das das entscheidende Wort. Immer wieder taucht es auf, großgeschrieben als stolze Ankündigung vor einem Doppelpunkt, kleingeschrieben als beiläufiger Ausweis von unerschütterlichem Glauben: „Und trotzdem: ah, wieder trotzdem, du liebes trotzdem“, heißt es ganz zu Beginn und später dann: „Hoch der menschliche Trotz.“ Einen trotzigen Erinnerungstext hat Handke geschrieben. Trotz gegen wen? Nicht gegen die Jugend. Nur ausnahmsweise zieht ein enttäuschter Vorwurf vorbei. Aus Trotz gegen das eigene Vergessen? Auch das nicht. Der Trotz erscheint hier viel eher um seiner selbst willen, als entscheidender Stich im unübersichtlichen Kartenspiel, als der die Erinnerung sich bald zu erkennen gibt.
Dem Trotz gegenüber steht der Verrat. Verführt vom politischen Wahn hat sich die Großvätergeneration widerstandslos der „Fälschersprache eines falschen Reiches“ hingegeben und damit ihre Kindheitssprache verraten. Nur kurz blitzt hier die verbrecherische Truggeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts auf, als semantischer Sündenfall von Kindern, die unbegreiflicherweise aus dem Paradies geflohen sind. Keine „Großväterverklärungsgeschichte“ soll hier erzählt werden.
Stattdessen der Bericht von einer gefolterten Schlange, die dem Großvater beim Grasmähen im Obstgarten in die Sense gerät: „Da hat er das Tier genommen und es zwischen die Zähne eines in den Boden gerammten Rechens gespießt. Bis nach Sonnenuntergang hat die Schlange dort oben hoch überm Grasland noch gelebt.“ Im verzweifelten Zucken des leidenden Tieres offenbart sich der ganze Abgrund einer vom Teufel in Besitz genommenen Generation.
Trotz allem weiter das Spiel
In der „sonntäglichen Kartenspielerrundey“, als die das Erinnern hier erscheint, steht ein solches Schreckbild gleich neben einer „windschiefen Mickey-Figur“. Über die Dörfer schallt bis auf Weiteres das eigenwillige Credo: „Und hör. Höre! Trotz allem weiter das Spiel.“ Die Kostbarkeit dieses Textes liegt nicht in seinem Inhalt, nicht in seiner Form. Es ist der Eindruck eines unausweichlichen Timings, eines zwingenden Wechsels von Abbruch und Dauer, der Handkes Sprachwerk so anziehend macht. Seinen Höhepunkt findet das in einer fast prophetischen Szene: Der sterbende Großvater schreibt mit der hochgereckten Hand an die Zimmerwand, „Tag für Tag eine Zeile tiefer“. Der Sterbende, der mit den Nägeln seine Lebensgeschichte in die Wand ritzt – was für ein Trumpfbild des Trotzes.
Von all dem ist bei der Uraufführung am Wiener Akademietheater jedoch nichts zu sehen. Stattdessen: Dumpf vorgeführtes Alter. Abfällig parodierte Jugend. Der hoffentlich bald aus seinem Amt scheidende Burgtheater-Intendant Martin Kušej hat das Stück aus leicht durchschaubaren PR- Gründen einer 1990 geborenen Jungregisseurin gegeben, die die in sie projizierten Erwartungen pflichtschuldig erfüllt: nämlich so gar nicht ehrfürchtig zu sein. Sondern: desinteressiert am Text, desinteressiert an seiner Stimmung. Nicht einmal Gegnerschaft oder Aufbegehren, sondern einfach läppisches, lustloses Wegperformen. Rieke Süßkow verlagert das Geschehen in ein neonbeleuchtetes Altersheim. Links lässt sie eine Gruppe alter Säcke „Reise nach Jerusalem“ spielen, rechts säuseln klischierte Pflegerinnenverschnitte mit hochgeföhnten Haaren „La Paloma“ von Freddy Quinn.
Im Lauf des Abends wird die Kulisse verschoben, ein kleiner Junge mit Taschenlampe quer über die Bühne gescheucht und die Souffleuse sehr in Anspruch genommen – von der frohgemuten Innigkeit des Textes aber ist nichts zu spüren. Das ist schon ein Kunststück: diesem Text all seine poetische Plötzlichkeit auszutreiben. Die Alten – unter anderem Martin Schwab und Branko Samarovski – werden als dämliche Demente vorgeführt, die Jungen als gefühllose Egalsager parodiert. Die wenigen kritischen Spitzen des Textes richten sich erbarmungslos gegen die eigene Bearbeiterin: „Und so, kommt mir manchmal vor, hat das Theater seinen Moment verloren ... ist die Zeit der Sprache, fürs Erste jedenfalls, vorbei.“ Wie gern hätte man diesen Sätzen auf offener Bühne widersprochen. So bleibt nur das stille Zwiegespräch mit dem Autor. Das entscheidende, in diesem Fall.