Oper in München und Zürich : Gibst du mir das Leben wieder, nur um mich zu quälen?
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„Orphée et Euridice“ in Zürich: Nadeshda Karjasina (l.) als Orphée und Bernhard Landau Bild: Monika Rittershaus
Kann Opernregie noch eine Gegenwelt zu unserer trostlosen Prosa entwerfen? „Der Freischütz“ in München und „Orphée et Euridice“ in Zürich machen sich die Antwort nicht leicht.
Heil werden, sich gesund hören können, das war einmal die Verheißung im Gesang der vier Hörner über dem sanften Wogen der Violinen am Anfang der Ouvertüre zum „Freischütz“. Carl Maria von Weber hat hier den Wald beschworen als Medizin gegen die Machenschaften der Menschen. Die Musik wird zum Medium einer „unriskanten Präsenz der Natur“, wie Odo Marquard es in seinem Buch „Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie“ formulierte, einer Natur aber, „die wesentlich nicht als Objekt unter Kontrolle und Herrschaft des Menschen steht“. Nur darin, in ihrem Unverfügbarsein, gründet ihre therapeutische Macht.
In Zeiten der drohenden Klimakatastrophe ist diese Hoffnung längst verloren. Und aus dieser Hoffnungslosigkeit gewinnt der Regisseur Dmitri Tschernjakow an der Münchner Staatsoper seine Idee für die Neuinszenierung des „Freischütz“. Vom Wald ist nicht mehr übrig als das Furnier an den beweglichen Lamellenwänden einer Konzernzentrale inmitten kapitalistischer Wolfsschluchten aus Glas und Beton. Max (Pavel Černoch) will Agathe (Golda Schultz) nur heiraten, um deren Vater, dem Konzernchef Kuno (Bálint Szabó), näher zu sein. Die Aktualisierung ist platt und plakativ, mag auch die Darstellung des Kaspar als Kampfeinsatz-Veteran mit posttraumatischer Belastungsstörung durch Kyle Ketelsen eindrucksvoll gelingen. Doch über diese Plattheit hinaus erzählt diese Inszenierung doch viel über die Krise der Immanenz, in der unsere Zeit und mit ihr unsere Kunst stecken.
Dass „Wälder und Felder uns hallend umfangen“, wie es im Jägerchor heißt, mag Tschernjakow nicht mehr darstellen, weil jedes Bild dafür durch unser konsumistisch gewordenes Verhältnis zur Natur korrumpiert ist. Nur im Klang des Bayerischen Staatsorchesters, das Antonello Manacorda leitet, in der warmen, überaus gewinnenden Stimme von Golda Schultz und in ihrem Gesicht, wenn sie zur Arie „Leise, leise, fromme Weise“ das Fenster öffnet, hört und sieht man die wohltuende Kraft von Mondlicht, Grille, Nachtigall, von Abendluft und Birkenhain als Schwundstufen des Außenraums, vielleicht sogar des Gegenraums zur menschengemachten Dauerhölle. Doch durch die Gegenfigur des Ännchens, die Anna Prohaska als abgebrühte Emanzipationsgewinnlerin gibt, erscheint Agathe als Dummchen, das in seiner Liebesfähigkeit, Frömmigkeit und Naturnähe nur Freiheitsvorsprünge wieder aufgibt. Dennoch schaffen es Tschernjakow und Schultz, dass diese rückwärtsgewandte Figur als einzige Sympathieträgerin auf der Bühne steht.
Keine Eichen sausen, kein Häher krächzt, keine Eule schwebt durch die Wolfsschlucht, die nichts als der Konferenzraum bei Nacht ist. Das Menschengemachte gebiert seine eigenen Unverfügbarkeiten für den überforderten Einzelnen, der ihm nirgendwohin mehr entrinnen kann. Der Schluss dieser darstellerisch – besonders im Fall von Schultz, Prohaska und Ketelsen – starken, denkerisch jedoch verzagten Inszenierung lautet: Transzendenz ist Wahn oder Dummheit, der Schrecken aber Wirklichkeit. Es hat einmal Zeiten gegeben, in denen Kunst sich weniger leicht abfand mit dem bloß Vorfindlichen.
Doch auch Christoph Marthaler scheint das Ausweglose unserer Gegenwart als so dringlich zu empfinden, dass er in seiner Zürcher Inszenierung von Christoph Willibald Glucks „Orphée et Euridice“ davor resigniert, so herzergreifend, wie eben nur Marthaler vor einer Ausweglosigkeit resignieren kann, auch wenn diese Resignation inzwischen bei ihm zu einer Wahrheit mit erprobter Methode geworden ist.