Jean-Pierre Vincent ist tot : Ein Spötter im Theater der Hoffnung
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Mit deutscher Dramaturgie rückte er den französischen Klassikern zu Leibe: Jean-Pierre Vincent, 1942 bis 2020 Bild: AFP
Er hat den französischen Klassikern Beine gemacht: Zum Tod des Theaterregisseurs Jean-Pierre Vincent
Drei Jahre genügten ihm, um die ehrwürdigste und traditionsreichste aller französischen Bühnen gründlich durchzuschütteln. Von 1983 bis 1986 leitete Jean-Pierre Vincent die 1680 begründete Comédie-Française und öffnete sie für zeitgenössische Stücke und etliche Experimente. Das Aufsehen war ungeheuer, das Urteil gemischt, die Stimmung um die „Maison de Molière“ grenzte an Hysterie. Frankreichs damaliger Kulturminister Jack Lang hatte die Berufung Vincents betrieben und in derselben, kurzfristig anberaumten Pressekonferenz zusammen mit Giorgio Strehlers Ernennung zum Gründungsintendanten des „Théâtre de l’Europe“ bekanntgegeben – ein kulturpolitischer Doppelcoup. Aber nach nur drei Jahren fiel der Vorhang für den Intendanten, und Vincent arbeitete wieder als freier Regisseur, bevor er 1990 die Leitung des Théâtre des Amandiers in Nanterre übernahm.
Hier folgte er einem Freund aus Jugendtagen: Mit Patrice Chéreau hatte er am Lycée Louis-le-Grand, einem Elitegymnasium im Quartier Latin, Schülertheater gemacht und später im Vorort Sartrouville mit Chéreaus Truppe eine Art politisches Volkstheater betrieben. Nach einem Jahr war man pleite und wandte sich neuen Projekten zu. Während Chéreau an Strehlers Piccolo Teatro inszenierte und Ende der sechziger Jahre die Oper für sich entdeckte, beschäftigte sich Vincent mit Brecht und gründete 1974 zusammen mit Jean Jourdheuil das Théâtre de l‘Espérance. Bereits im folgenden Jahr übernahm Vincent das Théâtre national de Strasbourg mitsamt der dazugehörigen Schauspielschule und machte es innerhalb weniger Jahre zu einem der wichtigsten Häuser Frankreichs.
Von Sophokles bis Labiche und Büchner
Die Jahre zwischen 1965 und 1975 waren das Jahrzehnt der Aufbrüche, Rebellionen und großen Vorhaben. Für Vincent begann es mit seinem ersten großen Erfolg als Regisseur: 1966 inszenierte er Labiches Boulevardkomödie „Die Affäre Rue de Lourcine“, mit der ein Vierteljahrhundert später auch Christoph Marthaler einen fulminanten frühen Erfolg feiern konnte. Beide Regisseure teilen den Sinn für den ätzenden Spott, den Labiche der überdrehten Komik seiner Boulevardkomödie beimengte. Vincent inszenierte Marivaux, Musset und Claudel, verschnitt 1990 zusammen mit seinem Dramaturgen Bernard Chartreux Sophokles und Aristophanes zur Trilogie „Ödipus und die Vögel“ und brachte „Das Kapital“ auf die Bühne. Als er sich im Jahr 2001 aus Nanterre zurückzog, war er längst selbst zu einer Institution des französischen Theaters geworden.
Es müsse Spaß machen, sagte er einmal, als er nach dem Grundprinzip seiner Theaterarbeit gefragt wurde. Vincent war ein Spötter, der das Komödiantische liebte. Er inszenierte „Scapins Streiche“ von Molière und Bernhards „Theatermacher“, aber als wichtigstes Stück galt ihm Büchners „Woyzeck“, den er 1993 mit Daniel Auteuil in der Titelrolle inszeniert hat. Wie kein zweiter französischer Regisseur seiner Generation setzte sich Vincent mit dem deutschsprachigen Theater auseinander, von Lessing über Kleist, Grabbe, Büchner und Brecht bis Bernhard. Er war ein vehementer Verfechter des Ensemblegedankens und der in Frankreich wenig üblichen Dramaturgie. Den französischen Klassikern, Molière, Racine, Corneille, hat er Beine gemacht. Jetzt ist Jean-Pierre Vincent im Alter von 78 Jahren gestorben.