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Theaterpremieren in München : Von der unendlichen Vereinzelung des Menschen

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Geschwisterliche Kissenschlacht

Die „unendliche Vereinzelung des Menschen“ und das komisch tragische Chaos zwischenmenschlicher Beziehungen zeigt Christopher Rüping an den Kammerspielen. Sein dramatisches Kräftemessen nach Bertolt Brechts „Im Dickicht der Städte“ durchspielt Variationen gegen die Einsamkeit – die in Enttäuschung enden. Das Anstacheln über alle Grenzen hinaus ist dabei der verzweifelte Versuch, sich selbst Bedeutung beizumessen – wenn nicht als Freund, so eben als Feind. Ob in der geschwisterlichen Kissenschlacht von Garga und Marie oder im hungrigen Bühnenkussgenuss, der dazu führt, dass die Souffleuse die Szene selbst zu Ende sprechen muss, ob in der plakativen Choreographie, die sportlich alle Theaterkampf-Register zieht, oder wenn die fünf Schauspieler unter der Heile-Welt-Utopie einer Bettdecke, die bis in den Zuschauerraum reicht, auf Hautfühlung gehen – wie Brecht unterscheidet Rüping nicht zwischen Spiel und Ernst, Lust und Existenz.

Nicht nur die Rollen, auch die Geschlechter und die gesprochenen Sprachen (Deutsch, Englisch, Arabisch, Serbisch) sind in dieser Inszenierung austauschbar. Doch im Dickicht sich verselbständigender, verfremdender Assoziationen fehlt es zwischen Bühne und Zuschauerraum oft an Berührung, wo von fehlender Berührung die Rede ist. Das Spiel wirkt allzu fragmentarisch und unpersönlich un(an)greifbar. Dass sich Rüping entgegen Brecht einer Steigerung des Kampfes bis hin zum „Finish“ verweigert, ist dabei konsequent, macht aber das zweistündige Verfolgen des Abends nicht einfacher. Anstelle von Gargas Fazit – „Alleinsein ist eine gute Sache“ – beweist Rüping seinem Publikum mit einer Vielzahl von Trugschlüssen das ganze Gegenteil. Bemerkenswert, wie der Intellektuelle Garga sich zu Beginn über den Namen des Holzhändlers amüsiert, die Provokation als Ausgangspunkt des Kampfes – und des Dramas – sich in München also von Shlink auf Garga verschiebt. Beklemmend, wie später ein verdoppelter Garga die echte Nähe zwischen seiner Schwester Marie und seinem Gegner Shlink entheiligt, indem er beide zur Prostitution demütigt und sich dabei an den projizierten Bildern der Live-Kamera berauscht.

Szenen, die berühren: Katja Jung, Robert Dölle und Johannes Nussbaum (v.l.) in „Der starke Stamm“
Szenen, die berühren: Katja Jung, Robert Dölle und Johannes Nussbaum (v.l.) in „Der starke Stamm“ : Bild: Sandra Then

Der spannendste Moment des Abends ist zugleich der unangenehmste: Gro Swantje Kohlhof bittet als Garga einen Zuschauer auf die Bühne, um Shlink alias Julia Riedler anzuspucken. Der Zuschauer aber windet sich zu Recht. „Beteiligen Sie sich an den menschlichen Einsätzen“, fordert Brecht sein Publikum 1927 auf und heraus – denn der „unerklärliche Ringkampf“ beschreibt vor allem auch das unaufhörliche Ringen mit sich selbst.

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