Schumanns „Faust-Szenen“ : Schubkarre über dem Nebelmeer
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Licht in der Finsternis: Christina Gansch als Gretchen neben dem absinthgrünen Torso ihrer selbst . Bild: Imago
Achim Freyer verrätselt an Hamburgs Staatsoper die „Faust-Szenen“ von Robert Schumann, Kent Nagano aber hält die Musik sehr durchsichtig.
Ei! So habt doch endlich einmal die Courage, Euch den Eindrücken hinzugeben, Euch ergötzen zu lassen, Euch rühren zu lassen, Euch erheben zu lassen, ja Euch belehren und zu etwas Großem entflammen und ermutigen zu lassen.“ Wie hilfreich und erleichternd dieser Rat, den Johann Wolfgang Goethe aus dem Programmheft zu Achim Freyers Inszenierung von Robert Schumanns „Szenen aus Goethes Faust“ den Besuchern der Hamburger Staatsoper zuruft! Es würde ihnen nicht leichtfallen, den Sinn oder tiefere Bedeutung zu finden in der überbordenden Bilder- und Zeichensprache des Bühnen-, Kostüm- und Lichtzauberers Freyer.
In einem Werkstattgespräch stellt er fest, dass dieses zwischen 1844 und 1853 entstandene Schmerzenswerk Schumanns nicht wie eine Oper inszeniert werden kann. Die Szenen sind weder durch einen narrativen Faden verbunden noch gibt es in ihnen eine dramatische Aktion. Der Versuch, diese Folge geheimnisvoller und von der Logik des Traums gelenkter Szenen sinn- und sinnenfällig zu machen, ist in den letzten Jahren mehrmals unternommen worden, zuletzt ohne das Glück des Gelingens zur Wiedereröffnung der Berliner Staatsoper. Dem Schumann-Enthusiasmus des Baritons Christian Gerhaher sind hingegen mehrere Aufführungen – mit dem Amsterdamer Concertgebouw Orchester unter Nikolaus Harnoncourt, den Berliner Philharmonikern unter Daniel Harding oder, nicht zuletzt, mit dem Orchester des NDR unter Thomas Hengelbrock – zu verdanken. Und so, wie Goethe den „Faust“, den zweiten Teil zumal, als Lese-Drama verstand, wurden Schumanns „Faust-Szenen“ durch diese Aufführungen (auf CD dokumentiert) zum Hör-Drama.
Im Vertrauen wohl auf Goethes Satz, dass alles, was im „Faust“ geschieht, „sinnlich“ ist und, „auf dem Theater gedacht, jedem gut in die Augen fallen wird“, hat Freyer tief in den Baukasten seiner Bilder-Phantasie gegriffen. Schon durch die szenische Anordnung rückt der Regisseur die Musik in den Hintergrund. Das von Kent Nagano geleitete Orchester sitzt auf der Hauptbühne hinter einer Gaze-Wand, das „Geschehen“ begibt sich davor auf einem den Orchestergraben überspannenden Oval. Schon vor der Ouvertüre bewegen sich dunkle Gestalten zeitlupenhaft schleichend über die Bühne – nach Freyer „Requisiteure“ –, die „lauter kleine Belanglosigkeiten“ herumtragen oder abstellen, „die aber große Geschichten erzählen“.
Nur was uns ein Metronom oder eine Kleiderpuppe oder ein blaubemaltes Violoncello oder eine aus Pappe gebastelte Kathedrale oder eine Schubkarre erzählen, ist so rätselhaft wie der Totenkopf, mit dem Faust auf die Bühne kommt. In deren Mitte ist ein Ausschnitt von Caspar David Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“ aufgestellt – ohne Kopf. Faust wird sich vor ihn stellen und dem Bild einen Kopf geben, der nicht in den Nebel blickt, sondern in die höheren Sphären der Musik. Das ist faszinierend und suggestiv, wenn nicht auch die Musik in der Ouvertüre und im ersten Teil wie aus dem Nebel gekommen wäre. Erst im dritten Teil erreichte Nagano ein durchsichtiges und dynamisch ausdifferenziertes Klangbild. Es mag wieder an der szenischen Plazierung gelegen haben, dass der Verkündigung des „Chorus Mysticus“ – „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis“ – der ekstatische Überschwang fehlte.
Wenn Faust alterssteiftorkelnd die Bühne betritt und sich des Totenkopfes entledigt hat, schreitet er hinter das Standbild und gibt dem Wanderer ein Gesicht – das Gesicht des verjüngten Faust, der um Gretchen wirbt, den „kleinen Engel“, mit dem er aus der Distanz seinen Liebesdialog führt, bei dem sich die entflammt singende Christina Gansch glänzend bewährt, dies auch in ihrem Sopran-Solo und den Szenen der allegorischen Figuren (Not, seliger Knabe). Dass Freyer alle Figuren und deren Alter Egos – Mephisto (Pater profundus, Böser Geist) oder Ariel (Pater Ecstaticus, Vollendeterer Engel) – nicht als quasireale Figuren auf die Bühne schickt, sondern ihre Köpfe auf den Vorhang projiziert, sorgt für die dem phantasmagorischen Werk angemessene Brechung.
Die Aufführung wird zum Seh-Oratorium, überreich ausgestattet mit märchenhaften Bildern – Mephisto mit rot blinkenden Hörnern, Engel mit Flügeln –, die, wieder mit Goethe gesagt, „gut in die Augen fallen“. Irritierend aber, dass das szenische und das musikalische Geschehen nicht wirklich ineinander aufgingen.
Dominiert wird die Aufführung von Christian Gerhaher, der zwar in der Gartenszene eine Spur gehemmt klingt, so, als müsse er nach einer leichten Indisposition seine Stimme erst finden, die sich aber bald prachtvoll und in großer Energie-Konzentration entfaltet, am schönsten, wenn Doctor Marianus – als Alter Ego Fausts nach dessen Tod – mit lyrischer Inbrunst das Ewigweibliche beschwört. Sehr eindringlich Christina Gansch als Gretchen mit ihrer Klage vor dem Bild der Mater Dolorosa („Ach neige, du Schmerzensreiche“) wie auch in der Kirchenszene und in ihrem Sopran-Solo. Der kurzfristig eingesprungene Franz-Josef Selig ist ein sehr sonorer, oft aber auch polternder Mephisto. Dem Ariel (und Pater Ecstaticus) blieb Norbert Ernst, den „ewigen Wonnebrand“ der Liebe besingend, jedes Feuer und Fieber schuldig. Als außerordentliches Talent aber erwies sich Narea Son als Marthe und in ihren vier allegorischen Partien. Das Publikum dankte mit höflichem Beifall und verließ das Theater wohl nicht nur ergötzt und erhoben, sondern irritiert über ein Werk, das die Kirchen- und Gedankenwelt als Bilder-Allegorie auf die Bühne verpflanzt.