Musiktheater nach Peter Weiss : Auf Herrn Mockinpotts Knie ist noch Verlass
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Klappern gehört zum Handwerk, wenn die Engel singen. Bild: Björn Hickmann
Selten so gedacht: Das Staatstheater Braunschweig bringt das Musiktheater „Wie dem Herrn Mockinpott das Leiden ausgetrieben wird” von Stefan Litwin nach Peter Weiss zur Uraufführung.
Die Leiden des Herrn Mockinpott haben einen organischen Grund: Sein Herz steckt nämlich in der Hose. Deshalb wird es ihm im sechsten Bild des 1963 geschriebenen Schauspiels von Peter Weiss, „Wie dem Herrn Mockinpott das Leiden ausgetrieben wird“, in einer grotesken Operation weiter oben wieder ins Hemd gestopft. Gleichzeitig werden auch sein Schädel geöffnet und sein Hirn mit einer Mischung aus Pfeffer und Ketchup pikant abgeschmeckt. Doch die therapeutische Maßnahme beschert ihm weder das scharfe Denken noch den Mut – nur weinen kann er nicht mehr. Erst nach der Audienz beim lieben Gott, der selbst nicht mehr weiß, inwieweit seine Firma noch funktioniert, wird ihm die prophezeite Erleuchtung zuteil: Mockinpott hat genug von all dem Betrug, wird endlich wütend und macht sich von dannen. Stefan Litwin hat diese Hanswurstiade in ein hintersinniges Musiktheater transformiert, das jetzt am Staatstheater Braunschweig uraufgeführt wurde – nach der Moritat „Nacht mit Gästen“ 2006 in Saarbrücken Litwins zweite Weiss-Adaption.
Weiss und Litwin sind in ihrer Orientierung an Bertolt Brecht Geistesverwandte, aber erst mit Litwins pointierter Musik erfährt der bewusst unbeholfene Text in Knittelversen seinen höheren Kunstcharakter. Dem individuell geforderten Ensemble aus fünfzehn Instrumentalisten unter der Leitung von Alexis Agrafiotis kommt dabei die Hauptaufgabe zu, denn für jede der elf Szenen variieren Besetzung, Stil und Charakter wie in einem übergeordneten Vexierspiel, alles Schlag auf Schlag. Die Operationsszene etwa begleiten tiefes Herzklopfen und eine Schwindelmusik ohne (harmonischen) Grund und Boden. Im Bild „Bei der Regierung“ ziehen Marschparodien und Fetzen des Deutschlandliedes auf, wechselt die Musik zwischen rhythmischer Betriebsamkeit und surrealer Leere. Vorher ironisieren ein grotesker Walzer, die kurze Epiphanie eines Streichquartetts oder ein dumpfes Kontrafagott für Mockinpotts Nebenbuhler (Benjamin Kaygun) die Handlung, später wird eine konzertante Posaune die Stimme Gottes übernehmen – hier herrlich süffisant als Greisin im Pelzmantel am Rollator (Julia Suzanne Buchmann, auch als Mockinpotts Ehefrau). Die vier Engel haben mit den Cowbells ebenfalls ein Leitinstrument, das ihre klappernden Blechflügel illustriert. Außerdem dürfen sie als einzige Protagonisten neben Mockinpott singen, ein wiederkehrendes „Miserere“ im schrägen „alten“ Stil. Mockinpott selbst singt nur bis zu seiner Operation – danach kann er nur noch krächzen und kichern. Zachariah N. Kariithi adelt die Titelrolle nicht nur mit warmem, lyrisch fließendem Bariton, sondern auch als Darsteller, der den lächerlichen Typus des Einfältigen ins Charakterfach holt und beim Zuschauer findet, was er auf der Bühne vergebens sucht: Mitleid. Allein bei seinen hoffnungslosen Versuchen, den richtigen Schuh an den richtigen Fuß zu ziehen, ohne je in Ungeduld oder gar Ärger zu verfallen, käme man ihm gern zu Hilfe. Erst am Schluss hat er’s raus, wenn er das (Weg)laufen gelernt hat.
Für die weiteren Protagonisten ist rhythmisches Sprechen vorgesehen, was vor allem der Schauspieler Robert Prinzler als Mockinpotts Gegenspieler Wurst bravourös meistert. Alle zusammen sind in der Regie von Christoph Diem Mitglieder einer Zirkustruppe, stecken in Clownskostümen von Elena Gaus und wechseln aus dem nach vorn offenen Zirkuszelt gelegentlich nach draußen, was ein Zwischenvorhang ermöglicht (Bühnenbild: Florian Barth). Dort treffen sich Mockinpott und Wurst auch nach der Operation, zu der ihn Wurst gebracht hat. Und nicht nur in dieser Szene passiert etwas heute längst verloren Geglaubtes: Diem hält sich ebenso minutiös an Weiss’ Regieanweisungen wie Litwin sich an den Text. „Der Arzt zielt mit dem Hammer auf Mockinpotts Kopf, schlägt aber nicht zu, sondern zielt weiter über seinem Körper, bis er zum Knie gelangt. Er schlägt mit dem Hammer auf Mockinpotts Knie, das Bein fliegt hoch, trifft den Arzt, der Arzt fällt um . . .“
Nur der runde, weiße Tisch, auf dem Mockinpott festgeschnallt ist und der sich dreht, bevor er sich in die Vertikale hebt, ist nicht von Weiss. Auch nicht, dass die Regierung aus einem Bären und zwei Faultieren besteht, aber deren Sprechblasen und Proklamationen, über Stadionlautsprecher ins Publikumsvolk übertragen, sind aktuelle Steilvorlagen, denn „sind wir nicht entschlossen, den eingeschlagenen Weg immer weiterzuschreiten in diesen verantwortungsvollen Zeiten? Zu allem entschlossen, unverdrossen zu Verhandlungen offen?“