Englands Musiktheater : Danny Boy auf dem Wohnzimmerklavier
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Gähnende Leere in der English National Opera Bild: EPA
Glyndebourne, Covent Garden, National Opera. Englands große Musiktheater werden hart vom Coronavirus getroffen. Wie planen die Kultstätten ihr Comeback?
Am kommenden Donnerstag hätte das diesjährige Glyndebourne-Festival beginnen sollen. Stattdessen stimmt das privat subventionierte Opernhaus am darauffolgenden Wochenende mit einer Kochvorführung auf das Online-Programm ein, mit dem es sich die Treue seines Publikums erhalten möchte, nicht zuletzt in der Hoffnung auf finanzielle Unterstützung.
Die Betriebsgastronomie wird Anregungen für das traditionelle Picknick in der langen Pause geben, damit Zuschauer am nächsten Tag, wenn eine Aufführung der „Hochzeit des Figaro“ über den Bildschirm läuft, die Glyndebourne-Erfahrung des Diners auf den Wiesen des Landsitzes im südenglischen Hügelland in ihren Gärten, auf ihren Balkonen, auf den Eingangsstufen ihrer Häuser oder in ihren Wohnzimmern reproduzieren können.
Dazu gehört freilich auch die Abendgarderobe. Glyndebourne animiert die Opernanhänger dazu, sich vom Alltagsleben des Lockdown zu lösen und für diesen Anlass die besten Kleider auszumotten. Abgesehen vom Festspiel-Ersatz ruft sich auch Glyndebourne, wie viele Musikbetriebe, auch mit regelmäßigen Online-Beiträgen in Erinnerung. Seit neuestem führen Künstler von zu Hause aus ihre Lieblingsvolksweise vor. Den Anfang macht die Sopranistein Danielle de Niese, die mit dem Enkel des Festspielgründers verheiratete Hausherrin des Anwesens, die sich bei „Danny Boy“ selbst auf dem Klavier begleitete.
English National Opera kündigt Auto-Opern an
Diese Art von notdürftigen Überbrückungsmaßnahmen gehen mit ständigen, vorsichtig tastenden Überlegungen des Musik- und Theaterbetriebs für eine Rückkehr zu Live-Vorstellungen unter Einhaltung des gebotenen physischen Abstands einher. Die English National Opera hat bereits für Anfang September Auto-Opern auf dem Gelände von Alexandra Palace, des viktorianischen Freizeit- und Erholungszentrums im Norden von London angekündigt. Bis zu dreihundert Fahrzeuge werden anrollen können. Motor- und Fahrräder sollen ebenfalls zugelassen werden. Ihnen allen soll auf einer Sonderbühne an zwölf Abenden eine auf neunzig Minuten reduzierte Fassung von Puccinis „La Bohème“ und eine familienfreundliche „Zauberflöte“ geboten werden, der sie bei geöffneten Autofenstern beiwohnen. Als Applaus schlagen die Veranstalter Hupen und Scheinwerferblinken vor.
Die Covent-Garden-Oper, die mehr Künstler beschäftigt als jede andere britische Kultureinrichtung mit Ausnahme der BBC, denkt unter anderem über Aufführungen nach, bei denen das Orchester auf das Parkett übergreift, damit die Musiker Abstand voneinander halten können. Wie der Geschäftsführer Alex Beard im Gespräch mit der „Times“ mitteilte, werden auch auf einen Akt verkürzte Opernvorstellungen erwogen, um zu verhindern, dass sich das Publikum in der Pause beim Andrang auf die Bars und Toiletten zu nahe käme. Beard sagte, das Haus werde tun, was es müsse, um in der von sozialer Distanz bestimmten Welt weitermachen zu können, wies jedoch auf die Herausforderung hin, einen Betrieb, der seine Kapazität zu 95 Prozent füllen müsse, um die Gewinnschwelle zu erreichen, unter diesen Bedingungen aufrechtzuerhalten.
Zurzeit werden verschiedene Möglichkeiten gedanklich durchgespielt. Was immer Covent Garden biete, müsse unverkennbar den Charakter des Hauses spiegeln, sagte Beard. Antonio Pappano, seit 2002 Musikdirektor der königlichen Oper, warf auch die Frage auf, ob der Kulturbetrieb Gebühren für das Streaming-Angebot erheben solle. Er selbst verzichtet derzeit sowohl bei Covent Garden als auch beim Orchester und der Accademia di Santa Cecilia in Rom, die er ebenfalls leitet, auf sein Gehalt und hält von seinem Londoner Heim höchst aufschlussreiche wöchentliche Online-Vorträge über bestimme Opernwerke- und Arien, bei denen er nicht nur Klavierauszüge spielt, sondern auch alle Partien singt.
Wie die Museen, die zu bedenken geben, dass es genauso viel koste, ihre Häuser für zweihundert Menschen zu öffnen wie für zweitausend, stehen auch die Bühnen vor der Frage, wie Live-Aufführungen unter den Beschränkungen halbwegs rentabel veranstaltet werden können. Andrew Lloyd-Webber soll der Regierung nahegelegt haben, sich an Südkorea zu orientieren. In dessen Hauptstadt Seoul wird Lloyd-Webbers Musical „Das Phantom der Oper“ weiterhin gespielt. In einem Schreiben, das nach Informationen der „Daily Mail“ auch Boris Johnson auf dessen ausdrücklichen Wunsch vorgelegt worden sein soll, schildere der Komponist, wie Südkorea über das flächendeckende Testen hinaus den Theaterbetrieb mit Hilfe von Masken, automatischen Türen, Entkeimern, Handreinigern und Fiebermessungen fortsetze.
Lloyd-Webber soll der Regierung auch angeboten haben, seine Unternehmen und Mitarbeiter für die Suche nach einer technischen Lösung zur Verfügung zu stellen. Unterdessen kann das Publikum bedürftige Beschäftigte der eingemotteten Londoner West-End-Bühnen mit dem Kauf eines T-Shirts unterstützen. Die Aufschrift: „The show must go on“.