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150 Jahre Rachmaninow : Seine ungebogene Musik

Unbestechlich, geradlinig, wortkarg, aber aufrichtig: Sergej Wassiljewitsch Rachmaninow (1873 bis 1943). Bild: bpk

Vor 150 Jahren wurde Sergej Rachmaninow geboren. Seine Musik stößt bis heute auf Dünkel und Verachtung. Dabei war er ein Ingenieur der Form, ein Denker aus dem Geist der Glocken – und aufrechter Gegner Stalins.

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          Für die Meinungsführer von gestern war Sergej Rachmaninow der letzte Dreck. Richard Strauss soll dessen Musik als „gefühlvolle Jauche“ bezeichnet haben; Theodor W. Adorno hörte im cis-Moll-Prélude op. 3 einen infantilen „Nero-Komplex“. Frank Schneider, der ehemalige Intendant des Berliner Konzerthauses, bemerkte 2013 nach Rachmaninows zweiter Symphonie: Er wisse nun wieder, was Adorno mit der „Kuhwärme in der Musik“ gemeint habe.

          Jan Brachmann
          Redakteur im Feuilleton.

          Kaum ein Komponist hat die Klügsten und Besten derart zu Fäkal- und Veterinärvergleichen provoziert wie Rachmaninow. Die momentane Situation, in der Wladimir Putin alles tut, damit der Rest der Welt die Achtung vor russischer Kultur insgesamt verliert, ist für eine Rehabilitation Rachmaninows nicht günstig, zumal Putin dieses Jahr, da sich am 1. April der Geburtstag des russischen Komponisten und Pianisten zum 150. Mal jährt, zum „Rachmaninow-Jahr“ erklärt hat.

          Und doch wird heute längst anders über Rachmaninow geredet und gedacht. Wolfgang Rihm, dessen Orchesterwerk „Verwandlung 4“ letzten Sommer gemeinsam mit der zweiten Symphonie Rachmaninows auf dem Programm des Lucerne Festivals stand, war glücklich über diese Nachbarschaft: „Das ist Musik, die ich mit jeder Faser meines Herzens liebe – nicht nur weil sie handwerklich perfekt ist, ohne die Perfektion akademisch auszustellen (die Begleitungen seiner Melodien sind ja fast sämtlich kanonische Verzweigungen derselben, alles ist thematisches Material), sondern weil sie auf eine tief persönliche Weise empfunden ist.“

          Daniil Trifonov wies im Gespräch mit der F.A.Z. (14. Oktober 2019) darauf hin, dass Rachmaninow im ersten Satz des dritten Klavierkonzerts die Solo-Kadenz zum Höhepunkt der Durchführung im Sonatensatz macht. Die Stelle der höchsten manuellen Anforderung ist zugleich die der höchsten logischen Verdichtung. Virtuosität wird hier komplett in den Dienst gedanklicher Arbeit gestellt. Wo haben alle, die Rachmaninow bloßen Zirkus vorwerfen, ihre Ohren?!

          Der erste Satz des zweiten Klavierkonzerts, mit dem Tom Ewell 1955 in Billy Wilders Komödie „Das verflixte siebte Jahr“ Marilyn Monroe rumzukriegen suchte, ist einer der gelungensten Sonatenhauptsätze seit Beethovens Neunter. Der Musikhistoriker Charles Rosen hatte bemerkt, dass kaum ein Komponist nach Beethoven es noch vermocht habe, in der Durchführung eine solche Spannung aufzubauen, dass der Einsatz der Reprise wieder als bedeutendes Ereignis erscheine. Rachmaninow ist das geglückt.

          Mehr noch: Er überwand mit diesem Satz ein altes Formproblem, das sich zwischen Schubert und Beethoven herauskristallisiert hatte. Der Entwicklungsprozess der Sonatenform schien kurze, zukunftsoffene Motive wie bei Beethoven zu verlangen und sperrte sich gegen geschlossene Liedmelodien wie bei Schubert. Rachmaninow verwendet hier Themen von nie gekannter Länge und Gesanglichkeit (allein das Hauptthema erstreckt sich über sechs Partiturseiten) und entfesselt gleichwohl mit Absplitterungs- und Verkürzungstechniken einen Sonatenprozess von mitreißender Konsequenz. Da hat ein Ingenieur und Architekt ein Grenzwertproblem gemeistert.

          Ein Drittes kommt hinzu: Rachmaninows Musik ist durchzogen vom Klang der Glocken und den liturgischen Läutmustern russisch-orthodoxer Kirchen, die sein Lehrer Stepan Smolenski erstmals systematisch erforscht hatte. Das zweite Klavierkonzert beginnt solistisch mit einem typischen Blagowest-Läuten, das die Gläubigen zum Gottesdienst ruft.

          Rachmaninow entwickelte seine Harmonik aus dem Glockenklang

          Im Dissonanzgebrauch bildet Rachmaninow anfangs sogar die für Glocken typische Differenz von Schlagton und Summtönen ab; seine Harmonik erwächst oft aus dem Versuch, die „unsauberen“ Spektren des schwingenden Glockenmetalls in ein wohltemperiertes Stimmungssystem zu übertragen. Rachmaninow ist Ethnologe von Ritualitätsformen und Spektralist von Idiophonen in einem. In der Reprise, auf dem Höhepunkt, hören wir im Klavier ein Triswon-Geläut, wie es für hohe Festtage und beim Abendmahl üblich ist. Rachmaninow überschreibt im zweiten Klavierkonzert die westliche Sonatenform mit der Liturgie des orthodoxen Gottesdienstes, bezieht also nicht nur Russland und Westeuropa aufeinander, sondern zugleich eine Form des Diskurses auf eine der Frömmigkeit.

          Dass Rachmaninow mit seiner Paganini-Rhapsodie Bewunderung von Modernisten wie Bartók und Lutosławski hervorrief, übersehen seine Verächter geflissentlich. Swjatoslaw Richter machte darauf aufmerksam, dass Prokofjew Rachmaninow nur deshalb so verachtete, weil er dessen Klavierstil, der Schärfe in den Etudes-tableaux, alles verdankte.

          Rachmaninow verteidigte seinen jüdischen Freund Matwej Presman gegen antisemitische Intrigen der Kaiserlich Russischen Musikgesellschaft. Er half Iwan Bunin mit Geld, als dieser bei der Emigration ausgeraubt worden war. Und er wurde – viel entschiedener, als Prokofjew und Schostakowitsch es jemals konnten oder wollten – zum aufrechten Stalin-Gegner im amerikanischen Exil, als er zusammen mit Ilja Tolstoi 1931 in der „New York Times“ das schreckliche „Joch einer zahlenmäßig verschwindenden, aber perfekt organisierten Bande von Kommunisten“ anprangerte, „die mit Mitteln des roten Terrors dem russischen Volk ihre Missherrschaft“ aufzwingen. Wenig später fuhr George Bernhard Shaw in die Sowjetunion und sang zur Zeit des Holodomors das Lob Stalins. Seinen Zeitgenossen Rachmaninow aber bezeichnete Shaw als „Vulgär-Töner“.

          Rainer Maria Rilke schrieb 1899 bis 1903 sein „Stunden-Buch“ unter dem Eindruck seiner Russlandreise. Im ersten Teil, im „Buch vom mönchischen Leben“, heißt es: „Ich will mich entfalten. / Nirgends will ich gebogen bleiben, / denn dort bin ich gelogen, wo ich gebogen bin. / Und ich will meinen Sinn wahr vor dir.“ Treffender kann man Rachmaninow und dessen Werk nicht fassen: Es ist ungebogene Musik eines ungebogenen Menschen.

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