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Schostakowitsch in Frankfurt : Zisterne des Begehrens

Anja Kampe als Katerina Ismailowa. Bild: Barbara Aumüller

Dmitri Schostakowitsch zeigt in „Lady Macbeth von Mzensk“ eine Frau, die aus Langeweile und Sexgier drei Morde begeht. Anja Kampe macht an der Oper Frankfurt aus diesem Monster einen Menschen. Es wird für sie ein Triumph.

          3 Min.

          Wären die Singenden nicht, vor allem die phantastische Anja Kampe als Katerina Ismailowa, aber auch der überaus noble Dmitry Belosselskiy als Boris, dieser Abend an der Oper Frankfurt ließe einen doch einigermaßen ratlos zurück. Was sollen wir heute mit einem Stück wie „Lady Macbeth von Mzensk“ noch anfangen?

          Jan Brachmann
          Redakteur im Feuilleton.

          Das plakative Abmalen von Wirklichkeit durch die Musik von Dmitri Schostakowitsch hat seine Kraft, die 1934 noch schockierend gewesen sein mochte, abgenutzt in einem Jahrhundert fortwährender Grenzüberschreitung. Diese Musik gähnt und furzt, dass für Missverständnisse wenig Raum bleibt. Sogar das letzte Röcheln des Kaufmanns Sinowi Ismailow, der von der eigenen Frau Katerina und deren Liebhaber Sergej ermordet wird, gibt die Bassklarinette wieder als tönende Pornographie des Tötens. Und das berühmte Posaunenglissando abwärts, nach der Beischlafmusik, ist ein Witz, über den man auch nur einmal lacht. Der zivilisationspessimistische Rigorismus, mit dem Schostakowitsch hier alle Metaphysik der Sitten durch die Physik der Triebe, genauer die Mechanik der Geschlechtsorgane ersetzt, nötigt uns nur noch ein Schulterzucken ab: „Okay, aber wie jetzt weiter?“

          Das Werk selbst ist heiliggesprochen durch den Bannfluch Stalins, der es in dem von ihm lancierten Artikel 1936 als „Chaos statt Musik“ diffamierte. Eine intellektuelle Erinnerungsfolklore hat Werk und Diffamierung zu einer ständig wiederholten Liturgie zusammengeschweißt, obwohl der amerikanische Musikwissenschaftler Richard Taruskin mehrfach darauf aufmerksam gemacht hat, wie gut die von Schostakowitsch betriebene Entmenschlichung der Kaufmänner Boris und Sinowi Ismailow – ihre Charakterisierung als lebensunwertes Ungeziefer – in Stalins Politik der Massenmorde an den Großbauern, den Kulaken, passte. Taruskin sieht in dieser Oper eine Rechtfertigung des Holodomor, also des Völkermordes an den Ukrainern und Großbauern durch eine gezielte Aushungerungspolitik. Das mag etwas überspitzt sein, aber man wird den Befunden nicht auf Dauer ausweichen können, dass Schostakowitsch nicht nur eine Opfer-, sondern auch eine Kollaborationsgeschichte im Stalinismus hat.

          In der November-Folge des F.A.Z.-Bücher-Podcasts:

          Karen Krüger über ein frühes Buch von Elif Shafak, Dietmar Dath über ein neues von Philip Ording und Kai Spanke über Campinos „Hope Street“

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          Einigermaßen ratlos steht auch Frankfurts Schauspielchef Anselm Weber vor dem Stück. Wo genau es spielt, wissen wir nicht. Kaspar Glarner hat eine Art Zisterne gebaut, die mit ihrem Betonbrutalismus noch einmal eine Zeit des Aufbruchs wachruft, als man „den neuen Menschen“ wollte, der zugleich als Individuum nichts mehr zählte. Zugleich steht diese halbrunde Staudamm-Architektur natürlich auch für die Innenwelt der sexuell unbefriedigten Katerina Ismailowa, die – so drastisch wird das nun einmal im Libretto erzählt – aus Langeweile und Sexgier zur mehrfachen Mörderin wird. Dass dann über die kolbenartige Bettkonstruktion in der Bühnenmitte beim Beischlaf die Blitze zucken, ist noch einmal ein Zitat aus Fritz Langs Film „Metropolis“: Futurismus als bildungsbürgerliches Souvenir. Aber warum es an diesem Ort so gefährlich ist, dass die Sicherheitskräfte im Straflager kugelsichere Westen, Helme und Maschinenpistolen tragen, erfahren wir nicht.

          Ringkampf von Lust und Angst

          Weber ist als Regisseur dort gut, ja, sogar überaus eindrucksvoll, vor allem genau, wo er psychologische Motive herausarbeitet und Geschichten zu den Figuren erfindet. Eher anekdotisch, aber ziemlich hübsch, pflegt der Pope – Alfred Reiter singt und spielt ihn mit präziser Trotteligkeit, die zur Sympathie nötigt – eine geheime Liebe zu seidener Damenunterwäsche. Auch sonst hat er, in einen heilsamen Wahn entrückt, die Unordnung der Welt hinzunehmen gelernt. Der erste Ringkampf zwischen Sergej und Katerina im Angesicht des Hofgesindes beschreibt überaus fein das Ineinander zwischen Anziehung und Abwehr, zwischen Sehnsucht und Angst bei beiden. Dass sie ihn nicht verrät beim Einschreiten ihres Schwiegervaters Boris, lässt in Sergejs Gesicht – Dmitry Golovnin macht das glänzend mit seinen funkelnden Augen und seinem irren Grinsen – einen animalischen Triumph aufgleißen.

          Jewgeni Akimow, dessen Tenorstimme weicher und lyrischer ist als die von Dmitry Golovnin, der auch rollenbedingt raubeiniger auftreten muss, wird leider als Sinowi mehr skizziert als detailliert ausgearbeitet. Der herrische Schwiegervater Boris mag von Schostakowitsch überaus schäbig gezeichnet worden sein, Dmitry Belosselskiy aber gibt ihm die Stimme eines Fürsten: klangvoll, elegant geführt, ein Bass von Gewicht und Grazie gleichermaßen. Wenn er im letzten Akt auch den alten Zwangsarbeiter singt, durch die Regie sehr klug verknüpft über das Motiv des Kindes, das ihn führt, dann gibt er durch seine Stimme – und Anselm Weber durch seinen Regieeinfall – der Figur des Boris quasi nach ihrem Tod jene Menschlichkeit zurück, die Schostakowitsch ihr abgesprochen hatte.

          Anja Kampe als Katerina hat einen großen Abend. Schon in der ersten Szene wechselt ihre Stimme die Farbe von Langeweile zu Sehnsucht, vom Ekel vor den Lebensumständen, auch vor sich selbst, zur Aufhellung bei der Erinnerung: „Vor der Hochzeit war es anders, wir waren arm, aber frei“, bald darauf zur gestauten Aggressivität beim Lied von der Ameise. Im Straflager des letzten Aktes legt sie eine Wärme in ihre Stimme, die so sehr den Menschen im Monster spüren lässt, dass sie für wenige Augenblicke zur Identifikation einlädt. Wenn ihr Gesicht stumm schreit zum Aufbrüllen des Orchesters und sie danach mit glasigen Augen am Bühnenrand sitzt, wird klar, dass ihre Seele erst jetzt erkaltet sein kann.

          Der von Tilman Michael einstudierte Chor ist so durchschlagskräftig wie zart. Und Sebastian Weigle am Pult des Frankfurter Opern- und Museumsorchester schafft es, dass es ein immerfort scharf gezeichneter, aber kein lauter Abend wird. Das ist viel.

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