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Ballett in Chemnitz : Sind so große Füße

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Prokofjews „Cinderella“ in Chemnitz Bild: Zenna

Intelligent und witzig: Sabrina Sadowskas Choreographie von Sergej Prokofjews „Cinderella“ in Chemnitz.

          3 Min.

          Es klingt zugleich leicht eskapistisch und irgendwie unzeitgemäß, ein Märchenballett wie Sergej Prokofjews „Cinderella“ neu zu inszenieren. Einige Feen und ein paar hilfsbereite Tauben tanzen etwas herum und schwenken ihre Flügel und Zauberstäbe, und schon klopft die Hauptfigur die Asche von ihrer Schürze, schlüpft in die Glitzerschuhe und verdreht dem Prinzen auf dem Ball den Kopf? Und wohnt danach 2023 happily ever after im Schloss? Was ist es nur an diesem Stoff, das den Versuch so oft rechtfertigt und ihn in den schönsten Versionen auferstehen lässt? Es ist ein ganz einfacher Stoff und gerade darum nur mit sehr viel Aufwand gut zu inszenieren. Es hat kaum Handlung, alles ist Atmosphäre, ist Stimmung, Gefühl, und deshalb ist jedes Bild, jedes Detail, ist jede Bewegung für sich wichtig. Die Hauptfigur ist ein Waisenkind – zwar lebt der Vater, er hat sich aber einer neuen Frau und neuen Familie zugewandt. Was mit Cinderellas Vernachlässigung so traurig beginnt, entwickelt sich im Handumdrehen zur Komödie, in der die Stiefschwestern den meisten Spott abkriegen.

          Im Ballett können sie nicht tanzen, sie sehen in den Ballkleidern lächerlich aus, und sie haben derart große Füße! Sie sind affektiert, eingebildet und so eitel, dass man sich schon gar nicht fragt, ob sie hübsch sind oder nicht: Zu unschön sind ihre Charakterzüge und Verhaltensweisen. Charles Perrault schrieb das Märchen, wie Madame de Sévigné meinte, „zur Unterhaltung der Frauen von Versailles“. Es sind aber zwei Männer, von denen die glänzendsten Neuinszenierungen stammten.

          Angesichts ihrer Erfolge verwundert es noch im Nachhinein, dass Charles Perraults 1697 zuerst veröffentlichtes Märchen mehr als hundert Jahre hatte warten müssen, bis es 1813 ein Ballett wurde, und mit Prokofjews Musik erst 1945 seine Premiere erlebte. Dann kam aber schon gleich Frederick Ashton und schuf 1948 seine Version, in der er die eine ugly sister tanzte und Robert Helpmann die andere, wie Stand-up-Comedians. Rudolf Nurejew verlegte die Handlung 1987 in das Hollywood der Dreißigerjahre, und wie bei „Singin’ in the Rain“ wird sein Aschenbrödel erst noch als Schauspielstar entdeckt. Sylvie Guillems Interpretation hatte einen Höhepunkt in der Szene, in der sie im Anzug mit einem Hutständer als Partnerersatz tanzte wie Fred Astaire in „Royal Wedding“. In Chemnitz spielt jetzt Sabrina Sadowska, seit 2017/18 Ballettdirektorin und die Choreographin der dortigen Neufassung, auf Nurejew an, unter anderem indem ihre phantastischen Ausstatter Charles Cusick Smith und Phil R. Daniels die Stiefschwestern in Petrol und Pink kleiden wie Nurejews Kostümbildnerin, die japanische Modedesignerin Hanae Mori, vierzig Jahre zuvor.

          Eine liebevolle Umarmung

          Gemessen an Sadowskas intelligenter, gebildeter und witziger Neuinszenierung und ohne ihr eine zu große historische Bürde aufzulegen, muss man sagen, dass das Ballett offenbar alle vier Jahrzehnte eine rundum gelungene „Cinderella“ hervorbringt. In Chemnitz geht der Vorhang zu einem sonnenlichtdurchfluteten Prolog hoch. Vor dem Hintergrund einer gezeichneten und wunderschön kolorierten Silhouette der Côte d’Azur – in der Art der Originalausstattung von Fredericks Ashtons „La fille mal gardée“ – sehen wir Cinderella als Kind mit ihren Eltern vor dem Modeatelier der Mutter. Im nächsten Bild holt die schwarz gekleidete Tante das zur Vollwaise gewordene kleine Mädchen ab. Das zweite Bühnenbild zeigt ein cremefarben und weiß gehaltenes Pariser Atelier der Vierzigerjahre, in das durch hohe Fenster von hinten Licht fällt. Mit den Entwürfen von Cinderellas Mutter wird die Tante berühmt. Cinderella darf auf die Knie gehen und die herunterfallenden Stecknadeln suchen, wie Pierre Cardin es für seine Lehrzeit bei Christian Dior beschrieben hat. Ein anderer Tänzer stellt Yves Saint Laurent dar. Dank der guten Fee, die im Atelier als Spitzenklöpplerin arbeitet, entwischt Cinderella zum Ball (der Ballsaal hat eine Decke wie von Michelangelo gemalt). Doch wird ihr „Prinz“ sie am Ende nicht auf sein Schloss führen, sondern umgekehrt ihr an die Côte d’Azur folgen und neben ihr stehen, wenn sie das Atelier ihrer Mutter aufschließt, um endlich deren Erbe anzutreten.

          Sadowskas Handlung passt nicht nur perfekt zu den Figuren. Ihre Geschichte umarmt liebevoll die Musik. Einen der choreographischen Höhepunkte stellt die Ballszene dar, in der nicht nur die Stiefschwestern witzig-unbeholfen herumgaloppieren (wie schwer sind diese Virtuosenstücke zu tanzen!), sondern die Männer die Frauen wie Uhrenpendel von links nach rechts schwenken, wenn die musikalischen Mitternachtsschläge Cinderella warnen, dass die Magie erlischt.

          Sadowska und ihr großartig tanzendes und spielendes Ensemble haben alles studiert, wie man an der herrlichen Fülle von Details und Anspielungen sieht, die der Tanzgeschichte genauso entspringen wie dem Film „Der Teufel trägt Prada“. Chemnitz ist ganz der Ort dafür, galt die Stadt im 18. Jahrhundert dank ihrer florierenden Textilindustrie doch als sächsisches Manchester. In einer Zeit, in der so viele große Bühnen Ballettdirektoren haben, die überfordert sind und ignorant und jede zweite klassische Variation aus dem Internet kopieren, choreographiert die Schweizerin Sadowska in Chemnitz nur scheinbar ein einfaches Märchenballett. Ihr gelingt vielmehr etwas, das in Basel, in Dresden oder beim English National Ballet genauso gefeiert würde, und es ist offensichtlich, dass sie es gar nicht für sich selbst tut, sondern für das Haus, für die Robert-Schumann-Philharmonie und ihren Dirigenten Diego Martin-Etxebarria, für ihre Ballettschüler und für ihre ausgezeichnete internationale Company, in der schon sechs Babys mit aufwachsen, in der man Teilzeit tanzen kann, um auch für die Familie da zu sein, und für die Stadtgesellschaft, alle Bürger einer Stadt, in der die AfD am liebsten Kunst und Kultur abschaffen würde.

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