Opernfestival Lyon : Das arme Würstchen in uns
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Matteo Borsa (Grégoire Mour) und Marullo (Daniele Terenzi) machen Rigoletto (Dalibor Jenis, Mitte) zur Sau. Bild: Stofleth
Richard Brunel ist neuer Intendant der Oper Lyon. Er hat Großes vor. Zunächst aber setzt er die Arbeit seines Vorgängers Serge Dorny fort: mit Verdis „Rigoletto“ und Schrekers „Irrelohe“.
Über viele Gründe, warum Menschen in die Oper gehen, spricht man nicht. Die Motive sind mit Scham besetzt, werden als erbärmlich, gar schäbig empfunden. Es kann um den Ersatz für unausgelebte Sexualität gehen, um reine Affektabfuhr, also die Verrichtung emotionaler Notdurft, um die Kompensation für mangelnde Achtung oder gar Liebe, um das zeitweilige Aufpumpen des eigenen mickrigen Ichs durch Projektionen auf monumentale Figuren. Für den Regisseur Axel Ranisch ist die Oper ein Ort der Erkenntnis auch für das, was ihr Publikum an sich selbst verdrängt. Aber er hat keine Freude an der Bloßstellung des armen Würstchens im Opernliebhaber, sondern will durch Mitgefühl Akzeptanz an die Stelle von Verdrängung setzen.
Die Oper Lyon zeigt jetzt Ranischs Lesart von Giuseppe Verdis „Rigoletto“. Der Regisseur, der Musiktheater und Film, Buch und Hörspiel gleichermaßen souverän beherrscht, erzählt auf der Bühne eine Missbrauchsgeschichte im Spielhöllen-Milieu (Ausstattung: Falko Herold), im Film eine Missbrauchsgeschichte im Plattenbau-Milieu von Berlin-Lichtenberg. Auf der Bühne ist es tatsächlich Gilda, die vom Herzog von Mantua, einem Mafioso, missbraucht wird. Im Film ist es Hugo (der Schauspieler Heiko Pinkowski), der erst von einer Frau betrogen wird, eine Kuckuckstochter großzieht, die dann noch von deren biologischem Vater verführt wird. Dieser Hugo hört verzweifelt gern „Rigoletto“, weil er sich mit dem Hofnarren des Herzogs, also dem Vater Gildas, identifiziert. Nur phantasiert er sich – wie Kinder zuweilen, wenn sie die Eltern mit ihrem eigenen Tod bestrafen wollen – in den Selbstmord hinein, um die Anteilnahme auskosten zu können, die ihm seine Mitwelt versagt.
Das ist anspruchsvoll erzählt, zugleich mit großer handwerklicher Virtuosität, weil Gesten im Film sekundengenau auf die musikalischen Akzente des Bühnengeschehens abgestimmt sind. Ranisch, der schon mehrfach Film und Bühne verzahnt hat, geht hier einen Schritt weiter und fügt beide Kunstformen zur polyphonen, eben nicht parallelen, sondern gegenläufigen Erzählung mit Motivkreuzungen zusammen. In seiner eigenen Entwicklung als Regisseur ist das eine neue Qualität, wenngleich dabei auch die Gefahr erkennbar wird, dass der Film über die Bühne die Oberhand gewinnen könnte. Zuzuschreiben ist das freilich vor allem der fesselnden Präsenz des todtraurigen Heiko Pinkowski.
Aus dem Graben hört man in Lyon extremen Ehrgeiz: Daniele Rustioni, vom Chefdirigenten zum Musikdirektor befördert, möchte Lyon zum „besten Opernhaus Frankreichs machen, wenn es um italienisches Repertoire geht“. Sprungbereite Eleganz und knisternde Aggressivität im Pianissimo sind hier vom Orchester zu hören. Rustioni atmet mit den Solisten ebenso exakt wie mit dem von Benedict Kearns zu höchster Präzision trainierten Chor. Da sitzt jeder Schlag; nichts fällt auseinander, trotzdem bleibt die Musik biegsam und organisch; die Lautstärken hält er vorbildlich in Balance. Enea Scala als Herzog ist optisch eine Attraktion und als Darsteller brillant für den manipulativen Narzissmus seiner Figur.